Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Jänner 2004 | |
6.5. "Soviele Sprachen
du kannst, sooft bist du Mensch."
Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Heinrich Pfandl (Graz) und
Walerij Susman (Nischnij
Novgorod) [BIO]
Diese Sektion versammelte acht Referate, die in unterschiedlichster Weise die Vielsprachigkeit des Menschen zum Thema hatten. Sie wurde vom Germanisten Valerij Susmann aus Nischnij Novgorod und vom Slawisten Heinrich Pfandl aus Graz gemeinsam geleitet. Die äußerlichen Bedingungen waren insofern paradiesisch, als jedem/r Referenten/in 30 Minuten Redezeit zur Verfügung gestellt wurden und nach jedem Referat zusätzlich noch 15 Minuten diskutiert werden konnte. In den einleitenden Worten wurden die ReferentInnen aufgerufen, ihre Gedanken verständlich darzustellen, umso mehr, als der Großteil der ZuhörerInnen aus Studierenden, vornehmlich der Universität Graz, bestand. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass die zu besprechenden linguistischen und kulturellen Phänomene ohne Methodenzwang (Feyerabend) behandelt werden können, was leider - siehe unten - in einem Fall dazu führte, dass die Spielregeln des akademischen Diskurses nicht ganz eingehalten wurden.
In seinem Einleitungsreferat diskutierte Heinrich Pfandl (Graz) zunächst die Herkunft des geflügelten Wortes, das der Sektion den Titel gab. Es wird im Internet den unterschiedlichsten Autoren zugeschrieben wird - von Aristoteles über Karl Marx, Lomonosov, Schopenhauer bis zum tschechoslowakischen Präsidenten T. Masaryk reicht die Reihe der vermeintlichen Urheber. Am ehesten entspricht der Satz dem Karl V. zugeschriebenen Ausspruch "Quot linguas calles, tot homines vales". Von Karl V. wird außerdem erzählt, er habe mit Männern Französisch, mit Frauen Italienisch, mit Gott Spanisch und mit seinen Pferden Deutsch gesprochen - auch diese Anekdote ist in den unterschiedlichsten Varianten zu belegen. Die Fragestellung ist jedoch, ob Karl V. dadurch mehrfach Mensch war, auch wenn man davon ausgeht, dass er jede dieser Sprachen vollwertig sprach, d.h. dem Typus des Multilingualen, und nicht des Polyglotten (in Analogie zu und im Sinne von Fergusons Terminus Diglossie) zuzurechnen ist. (Ein multilingualer Sprecher beherrscht mehrere Sprachsysteme gleichwertig, ein polyglotter verwendet mehrere Sprachen funktional verteilt.) Im Folgenden diskutierte der Referent die Frage, ob die Erkenntnis von intralingualen Unterschieden (dargestellt an Beispielen aus dem Bereich der Phonetik, Morphologie, Syntax, Lexik, Phraseologie und Parömiologie) denn für das (bessere, tiefere, vielfältigere) Menschsein etwas bringt und was das sein könnte. Ein Aspekt scheint ihm dabei die Möglichkeit zu sein, durch die Kenntnis von Fremdsprachen seine eigene Sprache bewusster einsetzen zu können, sowie seine L1 durch Elementen aus der L2, L3... zu bereichern. In Zweifel wurde gestellt, ob Mehrsprachigkeit zur Entwicklung von Intelligenz, Toleranz und Menschlichkeit beiträgt (zu den Reaktionen siehe am Schluss des Berichts).
Walerij Susman (Nischnij Novgorod) erzählte sehr anschaulich davon, wie sich bei Emigrierten die von Ju.N. Karaulov postulierten assoziativen Netze darstellen. Er demonstrierte anhand von Beispielen aus der Sprache von russischsprachigen Emigrierten in den USA, dass es gerade die Ebene der Wortassoziationen ist, die bei Emigrierten Gefahr läuft, von den Verhältnissen in der Sprache des Gastlandes überlappt zu werden. So tendieren die assoziativen Netze sowie die kognitiven Thesauri beider Sprachen dazu, zu einem einzigen zu verschmelzen. Susman lieferte eine kognitiv überzeugende Analyse von Erscheinungen, die auf der Ebene der deskriptiven Linguistik als Calquierungen, Interferenzen und hybriden Bildungen angesiedelt werden.
Larisa Kasiã (Krems) wagte einen Ausflug ins Unterbewusste, um Prozesse, die von derselben deskriptiven Linguistik beobachtet werden, einer Erklärung näher zu bringen. Sie appellierte an das freie Spiel der Assoziationen, das es uns erlaubt, über gewohnte Grenzen hinweg zu sehen und dadurch neue Möglichkeiten im Bereich der Sprache, des Spiels und des Denkens zu eröffnen. Sie beleuchtete sprachliche und kulturelle Stereotypen, deren Funktion sie ironisierte und in Frage stellte.
Harald Loos (Wien) stellte ein im Entstehen begriffenes Buch vor, das er gemeinsam mit seinem russischen Kollegen A.Berditschewski verfasst. Es soll dazu dienen, kulturelle Unterschiede zwischen Österreich und Russland aus den Augen von zwei Angehörigen der älteren Generation zu beleuchten. Phänomene der beiden Kulturen werden dabei in zwei Sprachen von jeweils beiden Gesprächspartnern analysiert und problematisiert, wobei der wesentliche Lerneffekt in der Konfrontation von zwei Bewusstseinstypen - einem österreichischen, vorsichtig-liberalen und grundsätzlich kritischen und einem sowjetisch geprägten, bipolaren, wenigen hinterfragenden - zu liegen scheint. Man darf gespannt auf das Erscheinen des Buches warten, das nicht zuletzt dazu geeignet sein wird, das Motto der Sektion zu beleuchten.
Am zweiten Tag sprach Tilmann Reuther (Klagenfurt/Celovec) über die sprachliche Situation in der Ukraine, insbesondere in ostukrainischen Städten. In seinem mit authentischem Anschauungsmaterial illustriertem, anregenden Vortrag gliederte der Referent die soziolinguistische Entwicklung in drei Abschnitte: a) die Wirkungslosigkeit des Ukrainischen als Amtssprache kurz nach der Selbstständigkeitserklärung 1991, b) eine Phase der starken Ukrainisierung seit 1993, c) eine Phase der gemäßigten Re-Russifizierung des öffentlichen Raums seit 2000. Einander widersprechende Sätze wie "Die verbreitetste Sprache ist das Surschik [eine russisch-ukrainische Mischsprache, H.P.]", "Es gibt eine reale Zweisprachigkeit und einen differenzierten Einsatz beider Sprachen", "Die Ukraine wird immer deutlicher ukrainischsprachig", sowie negativ qualifizierende Aussagen wie z.B., dass die ukrainische Literatur "nicht viel zu bieten" habe oder einseitig subjektive Eindrücke, wie z.B. dass die Unabhängigkeitserklärung 1991 von Bekannten des Referenten als katastrophal empfunden worden sei, stießen bei einigen ZuhörerInnen auf heftigen Widerspruch, bei zumindest einer Zuhörerin aus der Westukraine verständlicherweise auch auf Empörung, hatten aber den Vorteil, eine lebendige Diskussion provoziert zu haben. Gerade bei der Analyse einer Kultur wie der ukrainischen, die über Jahrhunderte von verschiedenen Herrschervölkern unterdrückt wurde, ist ein differenziertes Herangehen an die Materie angebracht.
Irene Koehler (Linz) widmete ihren Vortrag den Altgläubigen in der Region Nischnij Novgorod und zeigte, wie stark Sprache und kulturelle Identität miteinander verwoben sind. Im Glauben der Altgläubigen, also jenes Teils der russischen Orthodoxie, der sich im 17. Jahrhundert nicht den Nikonschen Reformen anschloss, drückt die Sprache selbst aus, wie man zu Gott kommt: Die Form des Wortes zeigt bereits an, ob jemand dem "rechten" Glauben folgt - ich erinnere an die Schreibung des Wortes Iisus (Jesus) mit einem oder zwei "i", welche die Altgläubigen (Schreibung mit einem "i") von den Reformern bis heute trennt, ebenso wie die scheinbare Formalität des Bekreuzigens mit drei Fingern (bei den Reformern) oder mit zwei (bei den Altgläubigen). I. Koehler berichtete von ihren Feldforschungen, dem altertümlichen Dialekt der Altgläubigen, den Einstellungen der Altgläubigen zu AusländerInnen, Behinderten und anderen Gruppen.
Wolfgang Sperer, ein oberösterreichischer Germanist und Gymnasiallehrer, berichtete von seinen Versuchen, interkulturelles Lernen in die Tat umzusetzen, von Reisen seiner Schüler in die Slowakei und in andere Länder. Seine Grundfrage war: "Wie erschließt sich - bzw. erschließt man als LehrerIn - für die SchülerInnen eine Kultur, die abwesend ist?". Im Zusammenhang mit der Frage ausländischer SchülerInnen unterschied W.S. dabei zwischen den Begriffen Assimilation, Integration, Interkulturalität und Emanzipation. Weiters berichtete er von seiner Tätigkeit als Gemeinderat und den Schwierigkeiten, von einem "dialogue de sourds", der weithin noch herrscht, zu einem Dialog der Hörenden zu gelangen.
Etwas abseits stand der Beitrag des Petersburger Germanisten Alexej Scherebin, dessen Vortrag über eine Übersetzung des Puschkinschen "Propheten" durch Hans Limbach die Problematik der Vermittlung einer fremden Kultur, dargestellt an einem Fall aus den 1910er Jahren, illustrierte. Limbachs gute Übertragung des Puschkinschen Textes fand bei den Verantwortlichen der Innsbrucker Literaturzeitschrift "Der Brenner" keinen Anklang und verblieb über Jahrzehnte in den Schubladen, obwohl es sich dabei um die gelungenste Übertragung des Gedichts ins Deutsche bis heute handeln dürfte.
Die zahlreichen Diskussionen brachten u.a. folgende Erkenntnisse, über die weitgehender Konsens herrschte:
© Heinrich Pfandl (Graz) und Walerij Susman (Nischnij Novgorod
6.5. "Soviele Sprachen du kannst, sooft bist du Mensch."
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