Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

10.6. Theater der Regionen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Christa Hassfurther (Hallein)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Elf Seelen für einen Ochsen - Enajst duš za enega vola

Tina Leisch (Linz)

 

März 1998. Für ein Projekt über österreichische Ravensbrückerinnen recherchieren wir in Südkärnten. Anna Jug ist unsre Zeitreiseführerin. Die alte Dame spricht Deutsch mit einem ungewöhnlichen sächsischen Akzent. Sie zeigt uns ihre Kindheit auf dem Bergbauernhof in Sele Fara/Zell Pfarre in den dreißiger Jahren, ihre Jugend als Deportierte im Lager Rehnitz in Norddeutschland, dann als Nummer 20373 im KZ Ravensbrück. Sie führt uns zu den entlegensten Höfen, wohin sich kaum einmal wer von den Svabi, den Deutschen hinverirrt und die PartisanInnen es riskieren können, nachts laut ihre Lieder zu singen. Wir fahren durch tiefe Täler, die "Gräben", hinauf bis ans Ende von Österreich.

Bzw. an seinen Anfang, an den Ursprung der zweiten Republik.

Denn der Staatsvertrag für ein unabhängiges Österreich ist nicht zuletzt dem eigenständigen Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung zu verdanken, d.h. in erster Linie den Kärntner PartisanInnen, die drei Jahre lang mit Überfällen und Sabotageakten, mit antifaschistischen Flugblättern und Versammlungen die NS-Herrschaft in Kärnten angriffen, die die Nachschublinien für den Angriffskrieg der Deutschen Wehrmacht gegen Jugoslawien Sabotierten, die fliehenden ZwangsarbeiterInnen und KZ-Häftlingen eine Zuflucht boten, die schließlich gemeinsam mit der britischen Armee Kärnten befreiten. Gedankt wurde es ihnen erst in den Siebzigern. Da überreichte Landeshauptmann Wagner Medaillen. Die ehemaligen PartisanInnen allerdings mußten durch ein Spalier von sie anspuckendem und als Vaterlandsverräter beschimpfendem Mob den Weg zum Festakt "spießrutenlaufen". Anfang der Neunziger weigerte sich dann Landeshauptmann Haider überhaupt, VaterlandsverräterInnen mit Auszeichnungen zu bedenken.

An einem kalten, trüben Vorfrühlingstag führt uns Anna Jug auf den Persmanhof. Drei mit glänzendem Bronzelack gegen Anspuckungen auf immer gefeite Freiheitskämpfer- zwei Männer, in ihrer Mitte eine Frau mit MP - empfangen die Besucher. Strahlende, kraftvolle Helden, die stolz und selbstbewußt dem Sieg entgegenstürmen. "Eigentlich sollten sie lieber müde und verfroren und am Ende ihrer Kräfte, mit letzter Anstrengung einen Verwundeten den Berg herauf schleppen, man sieht, was für eine Mühe es war, PartisanIn zu sein." wird meine Tochter ein paar Jahre später sagen. "Stimmt. Aber das Denkmal zeigt nicht so sehr, wie es während des Krieges war, sondern welche Bilder die Partisanen nach dem Krieg gebraucht haben." werde ich ihr antworten. 1947 am Grab der gefallenen PartisanInnen am Völkermarkter Friedhof hat man der Diffamierung der PartisanInnen als Mörder, Räuber, Brandstifter und Vergewaltiger die bronzeglänzenden HeldInnen entgegengesetzt. Die Diffamierer ertrugen das sowenig, daß schon 1953 das Denkmal weggesprengt und durch eine nichtssagende Schale ersetzt wurde. Die Bronzekämpfer wurden zurückgedrängt bis an die Grenze. Hier vorm Persmanhof, 150 Meter Luftlinie zur slowenischen Grenze, bewachen sie die Geister der Toten.

Ing. Peter Kuchar, Chef des Verbands der Kärntner Partisanen (Zveza Koroskih Partizanov) führt uns durch das kleine Museum, das neben Dokumenten zu Verfolgung und Widerstand der Kärntner SlowenInnen in der NS-Zeit auch die Fotos ausstellt, die der Pfarrer von Eisenkappel/Zelezna Kapla am 26.April 1945 auf dem Persmanhof aufgenommen hat. Leichen von sieben Kindern und vier Erwachsenen, die vor dem abgebrannten Gehöft liegen. Es sind diese schwarzweißen Bilder, die sich in den nächsten Jahren immer wieder vor die Postkartenansicht des inzwischen schön renovierten, in der Sommersonne oder im Winterschnee so malerisch vor der Bergkulisse liegenden Persmanhofes schieben.

Herbst 2000. Wir organisieren eine "Kulturkarawane gegen Rechts" durch Kärnten und die Steiermark. Kaum eine Kärntner Kulturinitiative wagt es, sich an dem Veranstaltungsprogramm zu beteiligen: wer auf Kulturförderung durch die Landesregierung angewiesen ist, kann sich in Kärnten ein derartiges politisches Engagement nicht leisten. Einzig die slowenischen Kulturvereine unterstützen die Karawane rückhaltlos. "Zarja", die "Morgenröte", der slowenische Kulturverein von Eisenkappel/Zelezna Kapla organisiert eine Lesung des Wiener nigerianischen Dichters Charles Obiora C-Ik Ofoedu am Persmanhof. Der slowenische Chor der Zarja singt dazu PartisanInnenlieder. Eine ungewöhnliche Begegnung von autochthoner Volksgruppe und neuer migrantischer Minderheit an diesem außergewöhnlichen Ort.

März 2001. Ich bin für ein paar Stamperl selbstgebrannten "Widerstandsgeistes" zu Besuch bei Zdravko Haderlap, Tanztheaterregisseur und Bauer. Wir sprechen über Florian Lipus` Kurzdrama "Die Stiefel", das das Massaker beim Persman behandelt. Ob man es nicht einmal aufführen könnte, oben beim Persman? In der Stube liegt Zdravkos Vater, selbst einst Partisan gewesen, im Sterben. Die Generation derer, die den Nationalsozialismus selbst erlebt hat, stirbt langsam aus. Peter Kuchar kommt, den Todkranken zu besuchen. Er sucht eine Frau, die den Sommer über Kustodin sein wird oben beim Persman. Ich sage sofort zu.

Peter Kuchar weist mich ein, wir heizen den großen Ofen, denn am nächsten Tag wird ein Fernsehteam kommen und auf 1100 Metern ist es noch bitter kalt im März. Kuchar verabschiedet sich. Als ich schließlich ein schönes Feuer zustande gebracht habe und das Haus sich langsam erwärmt, dämmert es schon. Wind pfeift ums Haus, es wird mir ein wenig unheimlich und ich will schnell wieder weg, ins Tal, doch wie verhext: das Auto tut keinen Mucks mehr. Springt nicht an. Ich habe die Wahl: im Dunkeln im Schneeregen zu Fuß ins Tal oder an diesem unheimlichen Ort übernachten. Ich versperre alle Türen und verkrieche mich im oberen Stockwerk in ein Gästezimmer. Das alte Holz knarrzt. In der Nacht höre ich die toten Kinder am Dachboden spielen. Als mich am nächsten Tag in der Früh Anci Sadovnik weckt, kommt mir meine Furcht lächerlich vor. Anci und ihre Geschwister Lukas und Amalia und der Cousin Cyrill haben das Massaker damals überlebt. Sie haben Jahrzehnte hier gewohnt, Anci hat ihre vier Kinder hier zur Welt gebracht und großgezogen. Wovor habe ich mich bloß gefürchtet?

Sommer 2001 und 2002. Ich arbeite im Museum. Versuche, slowenisch zu lernen. Anci Sadovnik bringt mir etliche Brocken bei. Nach den Ereignissen damals frage ich sie nie. "Es schickt sich nicht, mit einem dem Galgen Entronnen vom Strick zu sprechen." habe ich vor Jahren einmal in Georg K. Glasers "Geheimnis und Gewalt" gelesen. Es gibt immer wieder absurde Situationen. Ich, die Svaba, erzähle MuseumsbesucherInnen was ich inzwischen von verschiedenen Seiten gehört habe über die Ereignisse am Persman. Anci, die Überlebende sitzt derweilen vor dem Haus und trinkt ein Bier oder beobachtet mit dem Fernglas die Vögel in den Kirschbäumen.

Eine historische Dokumentation, eine wissenschaftliche Darstellung der Ereignisse am Persman gibt es sowenig wie eine umfassende historische Aufarbeitung der Geschichte der Kärntner PartisanInnen. Selbst HistorikerInnen, die sich viel mit NS-Geschichte beschäftigt haben, haben noch nie etwas vom Persmanhof gehört. Das einzige österreichische PartisanInnenmuseum ist jenseits der slowenischen Minderheit fast unbekannt. Das soll sich ändern. Es wird ein "Verein der FreundInnen des Persmanhofes/ Drustvo Prijateljev Persmanovega Doma" gegründet, der sich den Ausbau des Museums zur internationalen Begegnungsstätte vornimmt. Es wird um Geld dafür angesucht. WissenschaftlerInnen beginnen zu forschen.

2002. Ausschreibung des Festivals der Regionen. "Kunst der Feindschaft." Das schreit geradezu danach, die bis heute oft unüberwindbaren Feindschaften zwischen ehemaligen PartisanInnen und Nazis zu bearbeiten. Wir reichen ein.
Projekt: Ein Theaterstück, das die ausgebliebene Gerechtigkeit, das Versagen der Justiz im Falle Persman zum Thema macht.
Wird angenommen.

November 2002. Erster Besuch in Oberösterreich.
Gesucht: Aufführungsorte, die Schauplätze von NS-Kriegsverbrechen in Oberösterreich sind.
Gesucht: LaiendarstellerInnen, die mitspielen wollen.
Gesucht: Kulturvereine, die schließlich die Aufführungen veranstalten wollen.
Ich stelle das Projekt Anna Brandstätter vom Kulturverein 4840 in Vöcklabruck vor, die es sofort rückhaltlos unterstützt.

Birgit Stoiber und Vera Felbermair vom Kulturcafé in Pichl bei Wels erzählen von Schloß Etzelsdorf, in dem Kinder von ZwangsarbeiterInnen untergebracht gewesen sein sollen. Eine unerforschte Geschichte, von der nur Martin Kranzl-Greinecker vielleicht etwas wissen könnte. Treffen mit Martin Kranzl-Greinecker bei Herrn Parzer, dem langjährigen Leichenbestatter von Pichl und Nachbarn von Schloß Etzelsdorf. Er hat als junger Mann das "Fremdvölkische Kinderheim" gut gekannt, war verliebt gewesen in eine der Betreuerinnen. Martin Kranzl-Greinecker hat in akribischen Studien die Erforschung der Geschichte der Zwangsarbeiterinnenkinder zu seiner Herzensangelegenheit gemacht. Viele von ihnen verstarben aus ungeklärten Gründen, wurden namenlos am Ortsfriedhof begraben. Wenigstens ein angemessenes Angedenken sollte ihnen zuteil werden.

Ich treffe Rosemarie und Manfred Binder und Robert Kriechbaum vom Kulturverein "kunstdünger" in Gampern als sie gerade mit Behinderten der Lebenshilfe Vöcklabruck ein Weihnachtsspiel einstudieren. Sie werden mitspielen bei den "Elf Seelen für einen Ochsen". Rosemarie Binder fängt schon am nächsten Tag an, nach allen Seiten für das Projekt zu werben, DarstellerInnen zu suchen, Vorankündigungen zu lancieren, SponsorInnen zu suchen, kurz: Werbung zu machen für ein Stück, das noch nicht einmal geschrieben ist.

Ferry Öllinger empfiehlt uns Wolfgang Aistleitner, der selber Richter am Oberlandesgericht in Linz ist und mit seiner nur aus RichterInnen und StaatsanwältInnen bestehenden Theatergruppe "Das Tribunal" schon mehrere Justiz-Stücke inszeniert hat. Wolfgang Aistleitner zeigt sich interessiert.

Ich erhalte Einsicht in die Akten des Ermittlungsverfahrens gegen die Polizisten der 4.Kompanie des Polizeiregiments 13, die des Massakers gegen vier Erwachsene und sieben Kinder der slowenischen Familien Sadovnik und Kogoj am Persman verdächtigt wurden. Von 1946 bis 1949 wurden am Landesgericht Klagenfurt im Auftrag des Volksgerichtes Graz ZeugInnen und Beschuldigte vernommen. Etliche Verdächtige saßen in Untersuchungshaft. Die Akten dokumentieren einen gespenstischen Verlauf: je mehr sich Verdachtsmomente verdichten, je mehr Aussagen vor allem den Kommandanten des Einsatzes, den bayerischen Leutnant Josef Reischl belasten, umso mehr scheint das Interesse der Behörden an der Eröffnung eines Verfahrens zu sinken.

In dem Buch "Täter und Opfer. Nationalsozialistische Gewalt und Widerstand im Bezirk Vöcklabruck." (von Christian Hawle, Gerhard Kriechbaum und Margret Lehner) ist die Geschichte des KZ-Außenlagers Vöcklabruck-Wagrain und des Schlier-Werkes in Zipf dokumentiert. Ich treffe Christian Limbeck-Lilienau, er erzählt von den unfaßbar heftigen Widerständen der Zipfer Bevölkerung gegen eine Aufarbeitung der Geschichte des Ortes als Produktionsstandort für Teile der V2-Rakete und als Mauthausen-Außenlager. Dokumentiert in der Fernsehdokumentation "Deckname Schlier". Mit Rosemarie Binder Besuch bei Theresia Schausberger, der Besitzerin des Transformatorenbunkers. Als junges Mädchen hat sie zuschauen müssen, wie auf ihrem Grund ausgemergelte KZ-Häftlingen das Betonmonstrum errichten mußten. Sie wurde Augenzeugin von Grausamkeiten gegen die Häftlinge und konnte nur selten hier und da dem einen oder anderen einmal etwas Gutes tun. Wir beschließen, eine der Aufführungen wird im Transformatorenbunker stattfinden.

 

Suche nach den ZeugInnen im Fall Persman.

Nach der Partisanin Anna Sporn, Partisanenname Vida.
Sie ist seit Jahrzehnten tot. Ihr Bruder, Mihi Sporn, ein alter Herr, der wunderschöne Weidenkörbe flicht, erzählt von der Schwester und von seiner eigenen Partisanenzeit. Eine schöne, sehr beliebte Frau, politisch sehr engagiert. Jedenfalls bis zur Eheschließung. "Aber sie ist ja abgebildet auf dem Umschlag meines Buches ,Für das Leben, gegen den Tod`. Sie war Jugendsekretärin der Osvobodilna Fronta." sagt der ehemalige Partisan Lipej Kolenik. Die Historikerin Lisa Rettl findet eine Wort für Wort mit - stenographierte Mitschrift einer Verhandlung gegen Karel Prusnik, Partisanenname Gasper, in der Anna Sporn als Zeugin aufgetreten ist. Politisch klar, überzeugt, selbstbewußt, und dem britischen Militärrichter wortgewandt Paroli bietend: das Protokoll wird Vorlage für den Tonfall der Anna Sporn im Stück.

Nach dem Knecht, der im Stück dann Geiber heißen wird. Dem Verräter. Tot seit über zwanzig Jahren. "Einer, der alles erzählt für ein Krügerl Bier." Sagt man ihm nach.

Nach den Schwestern, die im Zollhaus tanzen waren mit den Polizisten, Nacht für Nacht. "Richtige Nazis waren die nicht, schon gar nicht mehr nach dem Krieg. Sie haben halt mitgetan. Wollten dabei sein. Aber zu leide getan haben sie niemand etwas." erzählt eine ihrer Bekannten.

Nach der Frau, die die Standgerichtsverhandlung der Nazi-Polizisten beobachtet hatte, in der die Polizisten einige ihrer Kompanieangehörigen zur Rechenschaft gezogen hatten, weil sie etwas über den Einsatz am Persman ausgeplaudert hatten. Sie ist nach dem Krieg Kommunistin geworden. Eine aufmüpfige, rebellische, unbequeme Frau, heißt es.

Nach dem Partisanen, der Kommandant war der Einheit, die am 25.April am Persman stationiert war. "Wir hatten eine Anweisung von der Kommandantur, uns keine Gefechte mehr bei den Höfen zu liefern, um das Leben von Zivilpersonen und auch das unserer Kämpfer möglichst zu schonen." Wer konnte schon damit rechnen, daß die Polizisten in den letzten Kriegstagen derartig gegen eine unbewaffnete Bauernfamilie wüten würden? Er erzählt lange und viel von der Kehrseite des Befreiungskrieges. Von all den schwierigen Entscheidungen für einen, der die Nazis besiegen, aber eigentlich nicht töten will. Wie die Disziplin aufrecht halten? Was tun, wenn auf dreimal bei der Wache einschlafen der Tod steht, aber man doch nicht die eigenen Leute wegen Müdigkeit erschießen will? Wie Krieg führen im eigenen Dorf, wo die Feinde von heute gute Bekannte von gestern sind? Und wie diesen Krieg irgendwann wieder beenden?

Bei meiner Mutter ruft jemand an wegen des Projektes, aber sie verschmeißt den Zettel mit der Telefonnummer. Vergeblich versuche ich herauszubekommen, wer das gewesen sein könnte. Wochen später findet sich der Zettel zum Glück wieder. Rudi Loidl aus Attnang steht darauf. Wir treffen uns. Beschließen eine Aufführung in Attnang am Bahnhof, wo in den letzten Kriegstagen KZ-Häftlinge aus Ebensee grausam erschossen wurden. Rudi Loidl und sein Kollege Alex Kieninger werden sich mit viel Zeit und Energie und Begeisterung in die Vorbereitungen hineinhängen. Wunder tun. Werden die Paketposthalle am Bahnhof als Spielstätte organisieren, werden sie innerhalb eines Tages in einen Theaterraum verwandeln und innerhalb einer halben Nacht wieder in eine Paketposthalle. Was uns einfällt, was wir brauchen, Loidl und Kieninger werden es organisieren.

Zu Besuch mit Anci und Lukej Sadovnik bei Cyrill. Die Überlebenden halten Rat, was von meinem geradezu pietätlosen Ansinnen zu halten sei, aus der Ermordung ihrer Eltern und Geschwister ein Theaterstück zu machen. Warum ich das will? Eine wichtige Frage. Um zumindest auf der Ebene der Kunst so etwa wie Gerechtigkeit herzustellen, vielleicht. Cyrill, der seit fünfzehn Jahren seine nach einem Schlaganfall schwer behinderte Frau pflegt, freut sich über Besuche und erzählt viele Geschichten. Wie die PartisanInnen oft Theater gespielt haben, wenn sie beim Persman waren. Von den düsteren Vorahnungen seines Onkels Lukas Sadovnik, der immer wieder geahnt hatte: es wird nicht gut gehen. Eines Tages wird etwas passieren. Von den Vernehmungen vor Gericht, dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Dem Eindruck, in den in Deutsch verfaßten Protokollen sei es ganz anderes niedergeschrieben, als das der damals zwölfjährige Bub auf Slowenisch gesagt hatte.

Alenka Maly und Florian Binder zu Besuch am Persman. Zdravko Haderlap skizziert uns Südkärntner Geisteslandschaften, eingefrorene Feindschaften aus der NS-Zeit und tiefen Katholizismus. Dorffehden und sozialrevolutionäres Aufbegehren und Scheitern.

Es soll Videoeinspielungen geben im Stück. Aber wie die Geister der Toten in Pixel fassen? Die alljährliche Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus am Friedhof von Eisenkappel/Zelezna Kapla filmen? Die Fotos und Dokumente im Museum? In einigen düsteren Aprilnächten entsteht das Konzept für das Bühnenbild und viel Videomaterial, aus dem dann Alenka Maly die sehr verdichteten Videoinserts schneiden wird.

Besuche bei Franz Froschauer. Er ist die Idealbesetzung für den Leutnant Reischl. Aber er möchte nicht zusagen, bevor er nicht den Text vorliegen hat. Leutnant Reischl tritt erst im zweiten Akt auf. Der wird kaum eher als am Tag vor Probenbeginn fertig werden.

Erste Leseproben. Also, was aus dem Ärmel schütteln. Schnell zwei, drei Szenen schreiben, damit es etwas Stoff zum Proben gibt. Damit man sieht, wem welche Rolle liegen könnte. Siegfried Stockinger und Robert Kriechbaum treffen auf Anhieb den Tonfall ihrer Rollen. Michael Aigner, Bettina Friedl und Magdalena Mühlberger (die dann leider nicht mitspielen konnte) zeigen vom ersten Moment an viel Spaß am Spielen und große Bereitschaft zu arbeiten. Die selbstbewußte, resolute Art von Rosemarie Binder paßt gut zur Rolle der Paula Rabenstein. Die subtile Vielschichtigkeit, die Manfred Binder spielt, könnte dem Verräter gut zu Gesicht stehen. Sandra Schiestl wird das Kind Katja Sturm spielen, das eingesperrt im Lager vom titoistischen Märchenprinzen träumt. Die Rolle des vor Wut und Empörung geladenen Deportierten wird auf Hartmuth Kilgus zugeschnitten. Hartmuth, der alle Türen öffnet. Die zu der wunderbaren Probebühne im Keller des BRG Wagrain. Die zur Werkstatt, wo Peter Aigner und Florian Binder nach den Vorstellungen von Alenka Maly das Bühnenbild bauen werden, schließlich die zu seiner Wohnung, die zur Frühstückspension und zum Internetcafé für SchauspielerInnen und Gäste wird.

Auch das Haus der Binders wird zum Theaterhotel, in dem die Wiener und Kärntner Mitwirkenden sich bald ungeniert im Kühlschrank bedienen. Die Terrasse mit der weiten Sicht über Felder bis zu den Bergen wird Produktionsbüro. Gespräche mit Dr. Reese vom Verein Schloß Hartheim und Rudi Lehner aus St.Georgen an der Gusen. Zwei weitere Aufführungsorte fixiert.

ZeitzeugInnenveranstaltung in Gampern. Rosemarie und Manfred Binder haben Theresia Schausberger, den ehemaligen Kärntner Partisanen Lipej Kolenik und den ehemaligen Wehrmachtssoldaten an der Ostfront Josef Gattinger eingeladen, aus drei völlig unterschiedlichen Perspektiven vom Grauen der NS-Zeit zu berichten. Der Saal ist brechend voll und das Publikum hört drei Stunden lang aufmerksam den Berichten der alten Menschen zu.

Probenbeginn. Die Profis Alenka Maly, Maxi Blaha, Christian Strasser und Franz Froschauer stehen den LaiInnen mit Rat und Tat zur Seite. Wolfgang Aistleitner führt die Ermittlungen. Langsam entwickelt er die Figur des Richters, als einen seltsam widerstandslos an den Fäden des Zeitgeistes Hängenden, als einen von den politischen Strömungen der Zeit Mitgetriebenen. Sein irgendwie doch vorhandenes inneres Gerechtigkeitsempfinden protestiert als physische Krankheit, als Schweißausbruch und Schwächeanfall gegen die eigene Durchsetzungsschwäche. Im letzten Moment taucht Angela Haas auf, um als Idealbesetzung die giftige kleine Gerichtsschreiberin voller Ressentiments abzugeben. Alenka Maly probt mit den LaiInnen tagelang, bis die möglichst viel falsche "Theaterei" ablegen, möglichst viel von sich selber in der Rolle wieder finden. Mein manchmal fürchterlich plumper Text wird in den Proben abgeschliffen, in Dialekt übersetzt, von den SchauspielerInnen ergänzt, gekürzt, auf den Punkt gebracht. Tag für Tag werden die Szenen klarer, schlichter, kürzer, deutlicher. Ständig wird hinter dem Rücken der Regie heimlich geprobt, verbessert, mit Stojan Vavti und Oliver Stotz an den Chor- und Musikeinlagen gearbeitet.

Christian Strasser entwirft sich als Berliner Völkermörderdandy. Franz Froschauer spielt den cholerischen Wahnsinn, der unter der Fassade des coolen Draufgängers und Frauenhelden jederzeit wieder zum Schießbefehl ausbrechen könnte, subtil aus. Maxi Blaha zeigt die erotische Kehrseite des Herrenmenschentums. Peter Aigner erfindet sich als trotzig renitenten Wiener Mitläufer, der ganz unerwartet dem Nazimännerbund die Treue bricht. Dana Rausch spielt die zwölfjährige Anci Sadovnik mit atemberaubender Ungekünsteltheit.

Die Premiere geht über die Bühne. Sieben Vorstellungen an sechs verschiedenen Spielorten sind eine Herausforderung an Bühnen- und LichttechnikerInnen. Fast alle Vorstellungen sind voll, die letzten derart ausverkauft, daß man noch zwei, drei mal spielen könnte.

Die eigentliche Bewährungsprobe für diese Theaterarbeit aber wird sein, wenn das Stück im Oktober in Eisenkappel/Zelezna Kapla denjenigen vorgespielt werden wird, von deren Geschichte es handelt.

© Tina Leisch (Linz)

10.6. Theater der Regionen

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For quotation purposes:
Tina Leisch: Elf Seelen für einen Ochsen - Enajst duš za enega vola. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/10_6/medek15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 3.9.2004     INST