Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juli 2004 | |
12. Virtuelle Beiträge | Virtual Contributions | Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Herbert
Eisele (Paris)
[BIO]
Unsere Zeit zehrt, wie im Energiebereich so auch in kultureller Hinsicht - vielleicht wie noch nie zuvor -, aus der Vergangenheit, aus der noch Werte tradiert sind, die in so manchen Kulturdenkmälern aufscheinen (z.B. Kunstfertigkeit, Ästhetik, Schaffensfreude, das demokratische Schönheitsideal Athens), Werte, die auch die Gegenwart prägen, obwohl diese sich den Luxus erlaubt, dies abzustreiten und deren heutige Gültigkeit infragezustellen, ohne aber in der Lage zu sein, dafür etwas anderes, wenn nicht Besseres, anzubieten. Es ist zwar viel die Rede von Innovation, aber das betrifft nur die Verpackung, nicht den Inhalt. Selbst für unsere Wegwerfgesellschaft ist Entsorgung nicht die Patentlösung, denn es gibt keine sicheren Langzeitdeponien, wie es Atommüll noch drastischer als Kulturreste veranschaulicht, denn der birgt einen unheimlichen Inhalt, den man nicht loskriegt, sosehr man es auch wollte, vielleicht schon allein deshalb, weil Inhalt zum Verbrauch und nicht zum Wegwerfen bestimmt ist. Man kann eben guten Gewissens nicht entsorgen, was man will. Schon gar nicht bohrende Frager, widerspenstige Käufer oder störende Nachbarn. Völkermord ist weitgehend verpönt. Der Mond verspräche allenfalls eine sprichwörtliche Lösung, aber der ist nicht immer ganz dabei.
Werte sind inhaltlicher Natur und lassen sich deshalb auch nicht dorthin schießen.
Vergangenheitsträchtigkeit gilt für alle Kulturen. Es ist ihre Legitimation und Sicherheit, sowie ihr Ursprungszeugnis und fester Grund. Daß aber heute nichts "Geileres" gefunden wird, das Beständigkeit verspräche, erklärt sich daraus, daß man sich der Dynamik verschworen hat und ständigen Wechsel zur Tugend erhebt, weil Gewißheiten tödlich langweilen und überhaupt als Extremisten-Credo verschrieen sind (vicissitudo statt certitudo). Gegen Dynamik ist an sich nichts zu sagen. Stellt doch der ständige Wandel in Wasser, Wolken, Wind bereits mit Heraklit das Gegenstück zu Parmenides' unveränderlichem Sein dar, und zeigt so die beiden Aspekte der Seinswesenheit in der richtungsweisenden Philosophie der Vorsokratiker. Auch mag die expandierende Religion des Mondgottes einiges zu dieser Tendenz beigetragen haben. Außerdem war die ständige Bewegung des Zweifels schon früh die Art, den Pegasus von hinten aufzuzäumen, um der Wahrheit beizukommen. Dauerndes Infragestellen braucht Stufen, denn nur von einem festen Punkt aus kann man losspringen auf weitere Zweifel und Fragen, die der hochstrebenden Bewegung auf den Grund gehen wollen, stattdessen aber in ihr stecken bleiben und darin fortgetrieben werden, bis diese am Horizont verflacht und an einem Fluchtpunkt hängenbleibt.
Aus ist es mit Vorwärtskommen! Der Punkt entpuppt sich hinterrücks als fortschrittliche Zwangsvorstellung: man muß erkennen, daß, indem man sich wähnte, vorwärts zu streben, man eigentlich in einer ständigen Flucht vor sich selber begriffen ist, unter dem Horror der eingestandenen Fehler und der Panik vor der unerbittlichen Forderung nach Rechenschaft (de peur que le ciel vous tombe sur la tête = aus Angst, der Himmel könnte über einen zusammenbrechen, laut dem Denkmal des Asterix). Solange nicht erkannt wird, daß der Weg, nicht, auch nicht rücklings, nach vorne (wohin, weiß keiner), sondern nur rücklings (und nach innen) zu gehen hat, wie es der Däumling im Verteilen der wegmarkierenden Erinnerungsstücke sinnvoll anzeigt, verfällt man der Verblendung falscher Erwartungen und braucht sich nicht zu wundern, daß Enttäuschung als nächster Wegweiser zerbrochen aus dem Nebel auftaucht. Und dann kommt das Grauen, und man fängt an zu rennen so schnell es geht, immer weiter weg vom Licht besserer Erkenntnis. So mag das Nomadentum entstanden sein, das heute nicht mehr Heimatlosigkeit, sondern Flexibilität ausdrücken soll in der Art des road movie, das Blinden-führende Lahme als Adepte zeigt.
Ausflüchte, wie Irrtümer, sind Holzwege, d.h. ziellos. Sie führen ins Dickicht der Depression. Deswegen wird Erfolg so hochgespielt, weil Mißerfolg zur Regel geworden ist. Aber im Gegensatz zum Mittelalter, bietet jetzt auch kein Jenseits mehr einen Trost für das verpaßte Glück. Die alptraumähnlichen Begegnungen, die auf dieser Flucht erschrecken, spiegeln sich im Schaufenster der derzeitigen sog. Kultur (ob in der bildenden Kunst, Literatur, Bühne usw. spielt auch keine Rolle mehr), wie die Winkelstellungen der Wandelsterne in den geometrischen Formen von gefrorenen Wasserspiegeln. Die "Schaffenden" glauben vielleicht, auf ihre Art die Schatten fassen zu können, als ob Schatten je faßbar gewesen wären.
Die Frage nach dem Sinn des Unterfangens stellt den Bezug her zu den Denkmälern der Danaiden oder des Sisyphus und zeigt damit die Erheblichkeit vergangener Zeugen. Außerdem nimmt es nicht wunder, daß, wenn ständige Bewegung angezeigt ist, deren Leerlauf sinnfällig wird, genauso wie wenn das Mittel zum Zweck erklärt wird (the medium is the message). Eine derartige confusio generis (Gattungsvermischung, wie in der haute couture und dem haut goût des Topmodelkults) trägt die Verfänglichkeit in sich, durch Vereinfachung die Verwirrung gefällig, das Ungewöhnliche genehm zu machen (z.B. furchtbar einfach, unerträglich leicht, gentle killing, grateful dead, eyes wide shut). Auf die konsensheischende Gestik des Redners antwortet der verständnislose Blick des Zuhörers. Man redet aneinander vorbei und fühlt sich schuldlos schuldig dabei, weil Unverständnis als rettungsloser Unverstand verstanden wird. Die daraus resultierende Hoffnungslosigkeit ist schuld am Ende der Geschichte und der Welt, für den einzelnen wie für die Gesamtheit. Zum Glück gab es bessere Zeiten, aus denen größeres Einvernehmen berichtet wird, und in denen geweiste Wege mit sinnvollen Zeichen, wie Denkmäler, besetzt waren.
Das eigentliche Denkmal, die Natur, hat keinen Plural. Immer weniger Menschen machen sich Gedanken über ihre natürliche Umwelt, über ihren Körper, und beachten sie nur, wenn sie stören. Sie überlassen den sogenannten Naturforschern und Technikern die Aufgabe, die Natur zu erforschen, zu durchforsten und zweckdienlich zu meistern. Daß ein Baum, eine Blume, ein Schmetterling, ein Füllen, ein Samenkorn, das Gen allen Grund hätten, sie zum "denk-mal" anzuregen, kommt den wenigsten mehr in den Sinn. Deswegen sei an das Wesentliche hier nur kurz erinnert, bevor wir uns dem Plural zuwenden. Ohne Natur ist Kultur undenkbar. Wenn die Kultur aufgibt, übernimmt die Natur wieder das Regiment, wie die Denkmäler von Angkor, Mohenjo-Daro, Borobudur bezeugen, die dem Dschungel entrungen und als Sehenswürdigkeiten wieder zugänglich gemacht wurden.
"Denkmal" hat zwei Plurale: Erinnerungsobjekte an ein Ereignis oder eine Person (Gedenkstätte bzw. -stein) sind Denkmale; denk- und erhaltungswürdige Gegenstände der Kultur, Kunst, Geschichte, Natur usw. sind Denkmäler. Manche Zeichen, wie der Taj Mahal, die Königsgräber bei Theben oder die römischen Katakomben, vertrügen als Gattung beide Plurale, wären sie nicht Unikate. Aber, wie bereits aus dem Titel hervorgeht, beschäftigen wir uns im Folgenden vorwiegend mit Denkmälern, auch weil diese kulturträchtiger als jene sind.
Beim Denkmal haben Form und Inhalt die gleiche Berechtigung (la même raison d'être). Die Form gibt dem Zeichen seine sinnvolle Gestalt. Abstrakte Denkmäler überbeanspruchen die Vorstellungskraft. Das Formale zwingt die Idee zur Darstellung, und ihr Sinn ruht in ihrer Aussage. Nur die Mathematik vermag, kraft der Gewalt der Zahl, formelle Ästhetik abstrakt zu deklinieren, aber damit erreichen wir die Grenze der dem gewöhnlichen Sterblichen zugänglichen Monumentalität. Des Denkmals Aussage, sein Text, entspricht der Vielfalt seiner Benutzer, da ein jeder seinen Ton dazu angibt und seine Ansicht daraus entwickelt. Dabei bleibt die vorgegebene Form unangetastet, aber der Sinn (Inhalt) wird jeweils neuformuliert (mobilisé). Genau das erklärt den Benutzerwert des Denkmals und seinen Zuspruch.
Denkmäler gehören zusammen, nicht nur als Kategorie, sondern auch als Teile des Kollektivbewußtseins bzw. -gedächtnisses in der Erkenntnis der Majestät des Unwiederbringlichen (de l'inatteignable), dessen, was Ehrfurcht einflößt bzw. ein Staunen bewirkt in den Unverwüstlichen, die dazu noch fähig sind, d.h. die sich noch ein offenes Auge und Ohr für geistige Dinge bewahrt haben, und sich vor Lächerlichkeit verwahren. Jedes Denkmal steht unter der Autorität der letztlich unerkennbaren (imperceptibles) "Rahmenbedingungen" seiner Entstehung, man mag sie Epoche, Zeitgeist bzw. -zwänge, Schicksal, Natur, Schöpferkraft nennen. Die Ganzheit dieser Ursprungsgegebenheiten zu würdigen, macht den Reiz, die Faszination eines jeden Denkmals aus. Es fordert den Blick heraus, wie die Aussicht von einer hohen Warte.
Größe ist ein sehr relativer Begriff für Denkmäler. Kolossal braucht es nicht sein. Small is beautiful, und Ästhetik ist oft denkmalförderlicher als Größe. Kleinode erzeugen Bewunderung oder genießen zumindest Wertschätzung, wie Gemälde, Gemmen, Kabinettstücke, Schmuck [le collier de la Reine, das Diamantgepränge des Maharadschas von Patiala], und geistige Schätze, aber auch der Völker Weisheit (contes, proverbes, refranes, Sprichwörter, Legenden, Märchen) oder epigrammatische Spitzfindigkeiten bringen ihre Botschaft auf den Punkt.
Sehenswürdigkeiten sind sicher beispielhaft verbindliche Anziehungspunkte für kulturbeflissene Fährtensucher. Das Augenscheinliche an ihnen ist ein Merkmal, das nicht alle Kulturdenkmäler teilen. Es gibt auch eine ganze Menge, die nicht ins Auge fallen und doch bemerkenswert sind, obwohl sie nicht zum Netz des Weltkulturerbes, wie es die UNESCO zu erfassen sucht, gehören(1)
und dennoch wichtige Knotenpunkte eines weit umfassenderen Weltkulturnetzes darstellen. Man könnte sie als Denkwürdigkeiten bezeichnen, womit die Quintessenz des Denkmals, seine Eigentümlichkeit, ausgedrückt ist. Das hochaktuelle Netzparadigma verdeutlicht den Zusammenhalt dieser Punkte: angelegentliche Verbindungsknoten für nachdenkliche Fahnder. Diesen wiederum mag es gegeben sein, das Gefundene zu verweben mittels Schuß und Kette( !) zu einem Text (textum), dessen Muster einen Stoff abgibt: acta est fabula. Die Geschichte wird noch fabelhafter, wenn der Text zum Hypertext wird mit Schaltstellen (Knoten), wie in diesem Text mit seinen Klammern und Fußnoten, die Querverbindungen herstellen und Querschüsse einbeziehen, und er dadurch wiederum der Netzvorlage entspricht und ipso facto Umberto Ecos cogito interruptus, der fadenscheinigen Denksprungfalle, ins Garn geht.
Ariadne spann den Faden der Logik, der Theseus aus dem Labyrinth der Gedankenfülle und der Angst vorm Text (Leben) half und weiterhin dem Leser hilft, seine Spur im Gewirr der Datenflut zu halten, wie der Filmemacher aus zeitlich verschiedenen shootings seinen Drehbuchablauf einhält. Auch Penelope wirkte und entwirkte ihr Gewebe bis zum Höhepunkt, als der Ersehnte, erst unerkannt, erschien. Sie wirkte ein Denkmal dem hartnäckigen Ringen um Aufschub bis zum günstigen Zeitpunkt, nämlich dem des Schnittpunktes, im Kraftfeld der Bestimmungen, dreier Zeitlinien: ihrer eigenen mit der des Odysseus und der des Kosmos. Sie kannte den Punkt nicht, wußte aber, daß sie danach streben mußte. Darum allein ging es bei ihrer Arbeit, nicht um Form oder Inhalt (Muster) des Gewebes. Darüber schweigt der Text, denn Unerhebliches bedarf keiner Rede. Des Denkmals Text liest jeder für sich nach Maßgabe seiner Aufgeschlossenheit für das, was ihn angeht von den angebotenen Sehens- und Denkwürdigkeiten.
Das Verbindende der Kulturen liegt im Text, d.h. im Zeugnis ihrer Kulturdenkmäler, die, über das aus jeder Ruine aufsteigende memento mori hinaus, einen jeden auffordern, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ganz gleich aus welchem Kulturkreis er stammt, und den Faden seines Schicksals, den Sinn seines Textes zu finden. Der gordische Knoten ist ein gewaltiges Denkmal. Es verkörpert den Garnknäuel der Versuchung durch die schleichenden Zwänge der Macht, dessen Unentwirrbarkeit Geduld fordert, nicht Gewalt, und es zeigt, daß bei Gewaltanwendung der Gewalttäter unter der Gewalt selbst zugrunde geht, wie es Alexander erfahren mußte; außerdem löst die äußere Gewalt nicht die innere Misere: draußen das Schwert, drinnen die Pest und der Hunger (Ez 7.15). So verbinden Denkmäler die Menschen untereinander und damit die Kulturen, indem sie auf das grundsätzlich Menschliche verweisen mit dem ein jeder konfrontiert ist. Das Wirkteppichband, la "tapisserie" von Bayeux, das auf 70 Metern Länge mit der Eroberung Englands im April 1066 durch den Normannenherzog Wilhelm in Stickerei ähnliche Gewalt dokumentiert, verdeutlicht ebenfalls die vergebliche Mühe, die innere Ruhe durch Kraftäußerung zu finden. Die gleichzeitig erbauten Abteikirchen in Caen und anderswo im Herzogtum bezeugen den weiteren inneren Weg Wilhelms nach der Eroberung. Friede sei seiner Seele!
So vermitteln Denkmäler Verständnis für frühere Zusammenhänge, sind Orte der Sammlung und Versammlung von Gleichgesinnten, von gleichen Bedürfnissen nach Klärung der eigenen Unzulänglichkeiten und verbinden Kulturen über die Zeit hinaus, bezeugen, daß die Vergangenheit die Gegenwart berührt und daß Alterfahrenes sich immer wiederholt. Verständnis entsteht aus der Erkenntnis von Gegebenheiten, die einen selbst berühren, als Bestätigung der Erfahrung und Wiederholung gelebter Emotionen, die Zu- oder Abneigung bewirken und den Ort (Text) entsprechend belegen. Vielleicht können die aufgesuchten Orte mit ihrer Botschaft trösten oder als Wegweiser dienen, der dem Wanderer auf seinen Weg hilft, und der eigentlich schon wußte, warum er es aufgesucht hat, weil er den Faden verloren hatte und seinen Text nicht zusammenbringen konnte.
Denkmäler beteiligen den Besucher, indem sie Wechselbeziehungen anregen (interactivité) bis zur Halluzination des sich ein Bildmachens, so wie der Bildschirmbetrachter aus dem Mosaik von 3 Mio Pixel/Sek. das seine synthetisiert, indem er nur ein paar Dutzend wahrnimmt und verarbeitet, je nach Fassungsvermögen und Sättigungsgrad. Diese Wahrnehm-Trenn-Sortier-Tätigkeit gilt allgemein für jede Sicht, auch für die Ansicht eines Denkmals, wird aber im Bild des Schirms besonders deutlich und kann paradigmatisch als Erklärungsmodell dienen, wie aus der Notwendigkeit der Informationsverarbeitung eine Monumentalansicht entsteht, die immer nur partiell sein kann, aber in jedem Fall den Ansprüchen des Besuchers/Betrachters genügt. Das Denkmal, in seinem Sosein, überläßt es dem Besucher, seine eigenen Grenzen zu erweitern, indem er sein Dasein in Bezug setzt mit dem Hinweis, den das Denkmal für ihn bereithält, oder auch unberührt seines Weges zu ziehen. Wie jedes Zeichen, ist es passiv und wartet geduldig, wie eine Rutschmine, daß man es betritt.
Es ist ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß so viele Denkmäler wie aus dem Boden schießen und so viele Pilger auf dem Weg sind. Nicht alle Denkmäler verbinden Kulturen, aber auch die Mahnung an Trennung kann zu tieferer Erkenntnis und höherer Einsicht führen, nämlich daß Irrwege auch ein Ziel haben. Verlorene Schritte (des pas perdus) sind nicht vergeblich, aber ihr Sinn ergibt sich erst später, wenn das Labyrinth am Horizont verschwunden ist.
1. Das Weltkulturerbe
Das Weltkulturerbe beschäftigt sich nicht mit diesen Sorgen, und dennoch schließt die Sammlung solche Gedanken nicht aus. Auf den ersten Blick kümmert es sich um die Aufstellung der Kulturstätten und Naturschönheiten, die kostbar für die Menschheit sind und verdienen, beachtet und gepflegt, d.h. geschützt, zu werden. Die Wahl des Begriffs "Erbe" ist vielleicht nicht so glücklich. Die Frage, was die Erben wohl mit ihrer Erbschaft machen, läßt schon Zweifel aufkommen über die Verbindlichkeit, die im Erbfall ganz und gar nicht natürlich ist. Man kann ein Erbe annehmen, ablehnen, einklagen. Wenn das Weltkulturerbe auch keinen Zank und Streit hervorruft, dann nur deshalb, weil kaum jemand sich dafür tatsächlich interessiert, außer ein paar Prestigeverfechtern und Tourismus-Politikern in den Nationalkommissionen und anderen Organen, außer ein paar project officers im Kulturdezernat der UNESCO und den Mitgliedern des World Heritage Committees. Wen sonst geht es schon an? Außerdem ist das "Welterbe" sowieso ein relativ neuer (1972), nicht sehr geläufiger Begriff, von den Vereinigungsbestrebungen seit Mitte des 20. Jht. getragen und wahrscheinlich geprägt, wie die 1US$-Note, aus dem Hintergedanken der stufenweisen Einführung einer Weltregierung, die, wie jede Regierung, einer Ideologie bedarf und damit einer Kulturpflege mit soliden Referenzen. Diese werden in ebendieser offenen Liste der Organisation gesammelt (jetzt 754 Einträge, davon 582 Kulturstätten, 149 Naturschönheiten und 23 Mischobjekte, aus 129 Ländern).(2) Jeder Antrag wird mit Wohlwollen aufgenommen, nach den sehr entgegenkommenden Maßstäben der World Cultural Heritage-Konvention (WHC) vom ständigen Ausschuß geprüft und vom Exekutivrat der Organisation zwecks Annahme an die Generalversammlung der UNESCO weiterempfohlen.
Mit dem Daueraufgebot werden die Mitgliedstaaten herangezogen. Nicht alle haben etwas aufzuweisen, leider! Der Wettbewerb floriert. Eine Schlange hat sich gebildet. Jetzt bräuchte z.B. die Berliner Mauer 10 Jahre, um akkreditiert zu werden. Die Ausgezeichneten sind stolz auf die Nummern, die ihnen im Katalog zugeteilt werden. Es kostet nicht viel und macht Freude, wenigstens offiziell. Die Liegenschaften (properties and sites) werden nicht enteignet, sondern ausgezeichnet (wie durch eine griffe de haute couture) d.h. vor Ort ausgeschildert mit ihrem Sonderstatut; ein Hauptanliegen soll ja ihr Schutz im Ernstfall sein. (Die Proteste gegen die Sprengungen der Buddhastatuen durch die Talibans in Afghanistan kamen zu spät; der Mißerfolg führte erst 2003 zur nachträglichen Aufnahme des ganzen Bamiyantals in die Liste).
Kultur hat mehr mit Politik zu tun, als es den Anschein hat. Oder ist es Zufall, daß Jerusalem, das heiße Eisen, das niemand anzufassen wagt, nur auf Betreiben von Jordanien 1981 in die Liste aufgenommen wurde? Ganz ungewöhnlich, denn jedes Land versieht nur seine eigenen Interessen und die Stadt liegt nicht in Jordanien. Andererseits gehörten die von Jordanien begehrten umstrittenen Golanhöhen bis zu gewissen Auseinandersetzungen 1967-81 zu Syrien. Soweit bekannt, hat Jordanien keinen Antrag gestellt, den Golan als schutzwürdig in die Liste aufzunehmen. Die Zuständigkeit wurde im Fall von Jerusalem beiseite gelassen. Ein eklatantes Beispiel für das Verbindende der Kulturen und für die liaisons dangereuses, die gefährlichen Liebschaften, die Kultur mit Politik vernetzen. Vulkans Fang von Venus und Mars im Netz seiner Eifersucht erregte nur den - denkwürdigen - Spott der Götter. Er hätte heute sicher, als Gott der Waffenschmiede, größere Chancen, ernstgenommen zu werden.
Ein anderes Anliegen, eher spekulativer Art, mag darin bestehen, daß der Eigentumsbegriff (im französischen heißt das Welterbe "patrimoine de l'Humanité", väterliches Erbe, d.h. Vermögen, Kapital der Menschheit) eine Ausweitung der verbindlichen Denkhorizonte bewirken soll (ein Verantwortungsbewußtsein soll damit geweckt werden für etwaige Spendenaktionen), besonders im Takt der weltumspannenden Kommunikationswelle (Internet), die einen neuen Totalitarismus heraufbeschwört, nämlich den des novus ordo seclorum, (der neuen Weltordnung) wie auf dem 1US$-Schein als untere Umschrift verdeutlicht und verbildlicht durch das durchdringende Strahlauge auf der abgehobenen Spitze einer Pyramide mit der oberen Umschrift Annuit Coeptis (Es/er begünstigt unser Unterfangen). Der Busch-Klüngel verhehlt kaum (they are not beating about the bush), daß der mythische Fortschritt zu einer weltweit gläsernen pyramidalen Gesellschaftsordnung mit allsichtiger Spitze schon arg weit gediehen ist. Die Sicht bleibt den tops allein vorbehalten, von außen gesehen, ist der große Pyramidenstumpf unter dem Auge frei vermauert. Das 1$-Rebus-Denkmal ist eine glasklare Ankündigung. Nur sind die Trümmer der vergewaltigten Natur (Treibhauseffekt, Genmanipulation usw.), der zerbombten Städte und Dörfer, deren Himmel zur Hölle gemacht wurde, nicht dargestellt. Der Wiederaufbau, auch der verwüsteten Kulturdenkmäler, wie Baghdad, Dresden, Dubrovnik, Montecassino, Skopje, gibt Gelegenheit genug für einträgliche Geschäfte. Profitgier ist gleichgültig gegenüber der Zerstörung von Menschen, Kunstwerken, Originalwerten. Kunst und Kitsch ist ihr dasselbe, solange es sich gut verkauft. Daß der in Rauch und Asche aufgelöste Geist das Werk für immer verlassen hat und eine Kopie das Original nicht ersetzen kann, betrübt den Finanzier nur deshalb, weil das Original doch mehr eingebracht hätte.
Wem gehören nun die aufgelisteten Properties? Wem gehört denn jetzt schon Ayers Rock, Buckingham Palace, der Louvre, die Schmuckstücke der Bukovina, Schönbrunn, der Titicacasee, der Vatikan, Versailles (Schloß und Park)? Der anonymen Menschheit? Die Humanité ist allenfalls ein tendenziöses Journal, das vielleicht in seinem Papier seines Homonyms Geduld teilt, dessen mythische Gestalt einen breiten Rücken hat, auf den viele Striemen passen. Die Schnur ist schon gebündelt, die Verbindung, wie dargestellt, gerissen zwischen dem Auge und der Mauer. Jetzt soll die von Berlin ein Denkmal hergeben mit ungewissem Plural. Die Berliner Mauer war eine peinliche Nachahmungen des chinesischen Gemäuers und findet ihre Wiederholung als Ausgeburt von Haß und Angst in den Territorien und an der US-mexikanischen Grenze. Solche Trennungsmauern verbinden durch die gesetzte Gegenteiligkeit von Einschluß/Ausschluß. Burg, Pyramide und Gefängnis verfolgen ja den gleichen Zweck, nämlich Schutz und Abschluß. Die Eingeschlossenen wären im Ernstfall gern draußen und die "Befreier" gern drinnen, kurzum, Tolstois Hühnerhofbild von der Ehe (die drinnen wollen draußen, die draußen drinnen sein), die ja auch Gegensätze verbindet, bewahrheitet sich in solchen Fällen und stellt ein Denkmal der verbindlichen Gegensätzlichkeit dar. Jedoch im Zug der Globalisierung ist Grenzverwischung angesagt. Deswegen baut man heute immer mehr Glashäuser, wo Transparenz und Spiegelung grenzenlose Klarheit vortäuschen, und niemand den ersten Stein zu werfen wagt. Scherben brächten ihm und seinem Versicherer kein Glück, wohl aber der Baubranche und der Börse, so argumentiert jedenfalls gewissenhaft die Rüstungsindustrie für den Ernstfall. Auch ist es schicklich in der Politik, Einbeziehung (von z.B. Benachteiligten, Minderheiten) zu predigen und Diskriminierung zu praktizieren.
Das Welterbe gehört allen und niemandem. Öffentlich, privat spielt keine Rolle. Es ist ein billiger Vorwand für Kulturgeier, den immateriellen Besitzer (l'humanité) für seinen fiktiven Besitz zur Zahlung zwecks Unterhalt zu bewegen. Denen hält die UNESCO die Stange, aber ohne großen Erfolg, wenngleich sie sich gern als Schutzgeist aufspielt (unter ihrer Schirmherrschaft). Der Schirm ist arg fadenscheinig und löcherig geworden; selbst Sponsor zu sein, kann sie sich nicht leisten, und ihr Prestige steht im Schatten der UNO, dem Koloß (de Gaulle's gran machin) auf Seifenblasen. Das Anrecht auf Nutzung gehört allein den Verfügungsgewaltigen, die jederzeit das Gelände nach Gutdünken für Unbefugte sperren können. Unbefugt ist das unerhörte und ungehörige Elementarteilchen der Humanität, der sprach- und anspruchslose jedermann. Deswegen bewegt dieses "Erbe" außer den Verwaltern kaum jemanden. Diese Erkenntnis entlarvt die Liste als unverbindlich und damit als eine Antinomie zum Thema (der Verbindlichkeit der Kulturen) und als Widerspruch zum Anspruch, den es erhebt, ein verbindliches Vermächtnis zu sein. So geht es oft mit Ansprüchen.
Das ist das Eigentümliche des Anspruchs der Demokratie, daß die Volksvertreter, sobald sie Mehrheitsbeschlüsse fassen können, das Recht für sich vereinnahmen und die Verantwortung mit den Pflichten (Steuern) dem unmündigen Volk überlassen. Parlamente sind Anti-Denkmale ("der deutschen Bevölkerung"), weil die Macht, die von ihnen ausgeht, sich unbedenklich gibt, aber umso heftiger reagiert, wenn Dissens in Streit ausartet, der im antichambre, in der Vorkammer, nicht mehr beigelegt werden kann. Anspruchsdenken ist jedem vernünftigen Denken abhold, da nur Forderungen gelten und damit der Korruption Tür und Tor offen stehen. Die Erfahrung zeigt, daß Politiker nur an ihre Pfründe denken, weil das System(3) es so will, und daß sie, die Politiker, laut Mrs Thatcher, die es ja wissen mußte, mehr reden als sie zu sagen haben, gerade weil sie das Sagen haben und es sich deswegen leisten können, Fahrlässigkeit zu einer Tugend zu machen. Das gilt im nationalen Rahmen. Noch durchlässiger wird die Tugend auf der höheren Ebene der diplomatischen Koffer. Im planetaren Dorf weitet sich die Kluft zwischen Deklaration und Konstatation bis zur Konsternation: z.B. die Bucht von Halong im Golf von Tonking, eine einmalige Naturschönheit mit ihren 1600 Karstinseln, ist, trotz Anerkennung als Weltnaturerbe, am Rande totaler Verseuchung aufgrund der wilden Industrialisierung im Rahmen der "nachhaltigen"(!) Wirtschaftsentwicklung (sustainable development). Der vormalige Fischreichtum ist dem Abwasser gewichen.(4)
Wie Tocqueville es so trefflich formulierte: paroles supercélestes, moeurs sousterraines! (= überhimmlisches Gerede, unterirdische Sitten). Und kaum jemand scheint dies zu stören. Die Erbverwalter kümmern sich ja um die Sammlung. Verwalter sehen auf Rendite. Das ist ihre Aufgabe. Sie wollen "organiser le patrimoine mondial" (offizieller Zweck), d.h. Kapital aus der Liste schlagen; für sich, um zu zeigen, daß sie gute Verwalter waren (inoffizieller Zweck). Tatsächlich ist das Erbe ein Kapital, aber ein geistiges, wie auch das Band, das die Kulturen verbindet, ein geistiges ist. Aber das paßt nicht ins Konzept der Kuratoren (Testamentsvollstrecker). Für sie hat Kapital nur einen Sinn: Geld. Man geht demnach darauf aus, einen Markt zu finden, wo die Objekte gegen Kasse angeboten werden können, nur zum Ansehen, ähnlich wie beim Film, nur, daß hier kein Trugbild, sondern das Original feilgeboten wird, man also mehr verlangen kann. Die Rechnung geht aber nicht auf. Der Massentourismus und der Zugang zum Objekt haben ihre Grenzen. Außerdem ist das Angebot an ähnlichen Objekten so groß geworden (754 Verlockungen!), daß der Zulauf sich in der Weite verliert, ohne von den Auswirkungen der organisierten Terrorangst zu reden. Das Ideal wäre natürlich, Teile von diesem patrimoine verkaufen zu können, wie die Steine aus der Berliner Mauer, oder ganze Straßenzüge vom alten Rom, von Pompeji oder Ephesus, so wie vor kurzem das Individuum ausverkauft wurde, spottbillig.
Auch die Faszination läßt nach. Selbst die größten (Welt-)Wunder langweilen auf die Dauer. Immer mehr vom selben führt zu Überdruß. Stetiges Wachstum, wie es die Weltwirtschaft fordert und wie es als Prämisse der Haushaltspläne der Länder fungiert, muß ausarten, weil auch das Geld seine Grenzen hat, wenn es keine lohnende Wertanlage mehr findet. Überdies zeigt die Natur, was aus chaotischem exponentiellen Wachstum wird am Beispiel der Lawine und am Krebs. Die Dynamik der Kulturverbindung, da sie nicht auf Geld/Menge, sondern auf Wert/Qualität beruht, kann also nur in der ihr eigenen Dimension stattfinden, sonst geht sie fehl.
Schließlich ist zu bemerken, daß der WHC-Katalog keine Anthologie ist und wenig Anreiz bietet, die aufgeführten Stätten aufzusuchen. Man sucht vergeblich nach einem barmherzigen Ariadnefaden, nach einer versöhnlichen Verbindung zwischen Zeiten und Kulturen. Die Aufschlüsselung nach Thema, Erdteil, Land (alphabetisch) oder Nummer ist zu trocken, um zu verlocken. Auch mahnt nichts mehr. Man will nicht wissen, daß Denkmäler besessen, nicht bemessen sein wollen. Ihre Mahnung ist still, entzieht sich der Öffentlichkeit, gilt dem einzelnen und verurteilt Zweckentfremdung.
Besessenheit ist weder Besitz noch Konsumrausch. Damit ist auch keine ständige Verfügbarkeit verbunden, und sogar die Raumbesessenheit der Werbung, die wild danach strebt, jeden nur erdenklichen öffentlichen Raum (besonders virtuellen, wie Fernsehen und Computer) als Wegweiser zu besetzen, ist ein schlechter Vergleich. Es handelt sich dabei eher um eine Art wahnvoller Drang nach dem Ort, wo etwas geschieht, was der Identitätssuche förderlich ist, und man dabei gewesen sein muß, um dazuzugehören. Touristen sind sehr anfällig für solche Strömungen. Darauf spekulieren die Erlebnisverkäufer der Zeitmaschine, die Gedenkdaten ins Feld führen, wie Stadtgründung, Jahrhundertfeiern, Ortsbegebenheiten (wie die Escalade in Genf) und tatsächlich den verblüfften Besuchern unter Schall und Farben (son et lumière) ein Schauspiel vorzaubern, bei dem das Denkmal die Hauptrolle spielt: Cluny im Jahr 1000 oder Sevilla im Jahr 1492.
Letztlich besteht bei einer solchen Aufstellung (WHC-Liste) die Gefahr, daß die Objekte auch anderweitig als zur Ausbeutung durch den Tourismus verwendet werden; sie könnten nämlich eine leichte Beute "höherer" Gewalt werden. Schutz ist immer mit Kontrolle verbunden. Denkmäler sind nicht frei von ungeahnten Bindungsgelegenheiten, bis zur Geiselnahme, wie die Beispiele Bamiyan und Bali zeigen.
2. Kulturmarkt
Wenn die geistige Dimension nicht berücksichtigt wird, ist die Rede von "interkultureller Verbindung" eher anrüchig, doppelbödig: der scheinbar positive Aspekt interkulturellen Verständnisses, das nur von ganz wenigen kurzlebigen, räumlich begrenzten Ausnahmen (z.B. in Andalusien oder Nubien z.Zt. unseres Mittelalters) tatsächlich belegt ist, verbirgt leichtfertig die Gefahr kultureller Grenzverwischung (im Verbund gilt alles gleich) zugunsten einer trostlosen weltbeherrschenden Monokultur materialistischer Prägung, wie sie bereits in den Medien zum Ausdruck kommt, in der Reklame, der subliminalen Beeinflussung durch Fernsehen und Computer, vor allem der Kinder und Jugendlichen, bestätigt in deren Zwangsverhalten, deren Kleidung, und der weitverbreiteten "in"-Mentalität, auch der unverbesserlichen Eltern. Der Zwang der vorgeschriebenen Gedanken (la pensée unique = das normierte Einheitsdenken), dessen, was "korrekt" ist, die Auswüchse der ultraliberalen Weltwirtschaft, die mit allen verfügbaren Mitteln und um jeden Preis vorangetrieben wird, sind eine weitere Bestätigung, daß die Plandurchführung schon ziemlich weit fortgeschritten ist. Aber Pläne haben ihre Tücken, wie menschliches Denken seine Lücken hat.
Die Gegenwart der Zukunft, ist die Erwartung, bekannte Augustinus und meinte damit das Heilsame der Enttäuschung(5), denn man kann die Flucht nach vorne nicht zum Ziel erheben, ohne sich zu täuschen über Weg und Rückwirkung. Das Fortschrittsdenken läuft leer im "Fortschritt um des Fortschritts willen".(6) Man nistet sich ein in die Parmenidische Dauer und bleibt hängen in Zenons Pfeilparadox, denn die Welt der Logik, wie sie in der Sprache, im Gesetz der Kausalität erscheint, ist statisch, kennt weder Zeit, noch Geschichte. Was Hegel "das Kreuz der Gegenwart" nannte, ist zum politischen Bekenntnis des Konsens geworden, des Konsens darüber, daß die schlimmen Zeiten, dank der Wissenschaft, bald besseren Perspektiven das Feld räumen werden. Der Fortschrittsglaube sucht sein Heil in der Aporie des ständigen Wechsels, eben en attendant mieux. Das Warten auf Besseres ist eine Beschäftigung nach Vorschrift der Ideologen des Einheitsdenkens, die sich nicht festlegen, weder auf einen genauen Zeitpunkt, noch auf eine Definition, was wohl das "Bessere" sei. Man bedenke dabei, daß das Sprichwort, le mieux est l'ennemi du bien = das Bessere ist des Guten Feind, nichts Gutes schwanen läßt. Die Losung unter Kennedy von der New Frontier (auf zu neuen Ufern!) brachte das Desaster von Vietnam.
Aber was hat das mit dem Thema zu tun? Sehr viel!: der Fortschrittsglaube ist das Freiheitsdenkmal der Menschheit: frei von den bekannten, vorgegebenen Zwängen, der Enge, der Ängste, weniger frei für das Unbekannte, das wiederum Furcht einflößt: Ehrfurcht (we will cross the bridge, when we come to it, meint der pragmatische Brite, eingedenk der Warnung von A.E.Housman, der im Fortschritt einen doppelköpfigen Drachen sah: until it starts, you never know, in which direction it will go.). Das Fortschreiten weg von der furchtbaren Vergangenheit hin zum Licht der Erlösung aus diesen Fesseln: Freiheit, begründet die Eschatologie aller Religionen und Gegenideologien, sowohl z.B. im Messianismus des AT, im Christentum (Hoffnungsprinzip des Neuen Jerusalems), als auch in der Aufklärung (Turgot: discours sur les progrès successifs de l'esprit humain) und später in der marxistischen Deutung Hegels (die ideale kommunistische Gesellschaft und das Ende der Geschichte). Kein Rationalismus hat dieses kulturverbindende Denkmal je untergraben können. Im Gegenteil, die verheißene Liberté(7) thront als Parole auf allen Rathäusern Frankreichs und wacht als Statue mit leuchtender Fackel vom New Yorker Hafen aus über ganz Amerika. Sie steht auf einer einsamen Insel und wartet auf ihr Los, wie Iphigenie auf Tauris. Die der Exekutivmacht Beifall spendenden Generäle bei der Januar 2004 Ansprache über The State of the Nation unterscheiden sich in nichts von gleichen Veranstaltungen im Kreml, in Burma, China oder Nordkorea. Die oben erörterte "Flucht in den ständigen Wechsel" sucht nur darüber hinwegzutäuschen, daß unentwegtes Wechseln nichts bringt als Unsicherheit und Angst vor dem "Feind des Guten".
Der Irrtum ist sicher auch ein solcher, da er das Wahre beweist. Weil er an der Oberfläche liegt, ist er viel leichter zu erkennen als die Wahrheit, deren Tiefe zu erforschen nicht jedermanns Sache ist (Goethe). Victor Hugo meinte zwar, daß Irrtümer vortreffliche Geschosse seien (les erreurs sont d'excellents projectiles), ohne zu bedenken, daß sie fatalerweise nach hinten gehen können und damit falsche Rückschlüsse bewirken. Ihr Dienst an der Wahrheit erweist sich in der Unbedenklichkeit, mit der sie gehandelt werden und die Enttäuschung sucht und auch immer früher oder später findet. Sahnetorten und faule Tomaten und Eier sind heute beliebtere Geschosse als Irrtümer, um den Unmut über die triste Sachlage (the State of the Nation) zu bekunden.
Was die verlogenen Kumpanen der Liberté anlangt, hat man längst kapiert, daß es immer Gleichere als Gleiche gibt (Orwell), und daß die Brüderlichkeit nur innerhalb der gleichen Bruderschaft gilt. Somit gehört der Fortschrittskult zu den doppelbödigen Requisiten der Politik: der Vorwärtsschrei soll die schläfrigen Gefangenen aufrütteln zu größerer Anstrengung im Betreiben der Tretmühle. Die Kultur, ihrerseits, wurde bereits von Adorno der Prostitution durch Macht zwecks Entfremdung verdächtigt, und die Macht des Fortschritts mit dem Fortschritt der Macht kopuliert.
Tatsächlich wird in dieser Zeit der Globalisierung die Kultur fragwürdig als Mitgehilfin bzw. als Helfershelferin. Soll sie bei der Globalisierung mitmachen oder nachdenklich beiseite stehen? Die Kulturhaushalte der öffentlichen Stellen sind so karg bemessen, daß sie, die "Kultur", es sich garnicht leisten kann, lange nachzudenken. So bleibt ihr nur die Wahl der Modalitäten zwischen Erfolg und Selbstgenügsamkeit: wie kann, wie soll sie sich beteiligen?
Was ist sie überhaupt, daß eine Nichtbeteiligung in Frage käme, weil sie die ökonomische Welt nicht teilt? Sind ihre Werte verwertbar auf dem Marktplatz des planetaren Dorfes, denn Mitmachen käme einer Vermarktung gleich. Wie geschickt ist sie in der Selbstdarstellung, daß sie noch Abnehmer fände und Kulturpreisträgern aus ihren Ghettos verhülfe? Bestehen überhaupt noch Aussichten auf Kultur in der Medienlandschaft? Kultur müßte danach trachten, erfolgreich zu sein, sich einen angesehenen Platz auf dem Rummelmarkt des global village zu verschaffen. Die Medien zeigen zwar, daß das Wort Kultur noch geläufig ist, aber sie zeigen auch gleichzeitig, daß damit etwas ganz anderes gefahren wird. Es ist vielleicht nie so leicht gewesen, Echtes von Falschem zu unterscheiden, aber das Angebot des echt Falschen ist so überwältigend, daß sich niemand mehr traut, etwas anderes zu erwarten. Das Wort Kunst hat sich dafür eingebürgert: Kunstdünger, -faser, -harz, -herz, -leder, -stoff, -handel. Der Kunstkritiker wird zum Kunstbanausen. Kunststück!: Die freien Künste schlagen sich in der Grafik des Strichcodes nieder; Werbeleute werden zu Philosophen der Kommerzkultur,(8) zu Priestern der Sinnvermittlung von trash (= Müll). Die Gestik des Dekorums verpflichtet jetzt auch das Obszöne. Tabus kommen unter den Hammer. Schatten werden ausgeleuchtet und profiliert. Dunkelmänner geben Lichtblicke(9) und machen Karriere. Die unterirdischen Sitten erwerben Denkmalcharakter wie die Katakomben. Machenschaften allein versprechen Erfolg. Unschicklichkeit ist passé, und der sich daran stößt wird zum Volksfeind. Der Großkophta wird gefeiert. Die Kulturindustrie hat Adornos Warnung überspielt, den Fetischismus etabliert und die Sprache entmannt. Was bleibt in der schrecklichen Öde, neben Sponsoring oder Prostitution?
Nun, noch gibt es Werte, die sich nicht verhandeln lassen - und die Kulturinhalte gehörten bisher dazu - Werte, die maßgebend sind für das, was das Leben menschenwürdig macht. Die Globalisierung, soviel sie es auch wollte, kann den Menschen als Maßstab aller Dinge nicht aus dem Bild verdrängen, wenngleich die Tendenz besteht, ihn zu verdinglichen, zu beziffern, zu verkaufen nach Maßgabe seiner Dummheit.
3. Mahnmale
Man kann davon ausgehen, daß jede Kultur, wie ja jeder ausgeprägte Mensch, ein in sich geschlossenes Wesen ist, unbeschadet John Donne's Ausspruch, kein Mensch sei eine Insel ohne Bezug zum Festland, dem "mainlande", d.i. der übrigen Menschheit. Diesen Bezug zwischen Kulturen nicht als Trennstrich, sondern als verbindliches Band zwischen-menschlichen Verständnisses zu werten, sollte bedeutungsvoller sein als nur dem internationalen Tourismus das Wort zu reden, ist dieser doch nichts anderes als Ausbeutung, als eine postmoderne, verharmloste Form des Kolonialismus, wo der andere das Luder hergibt.
Den andern als gleichberechtigt anzuerkennen war schon seit der Renaissance und noch mehr der Aufklärung ein Belang der Humanisten in Anlehnung an und als Kontrastpunkt zur immer noch gültigen religiösen Forderung der Nächstenliebe, die so kläglich versagt hatte im Zug der Machtbehauptung der Kirchen und Tempel. Wenn Liebe, weil aus der Welt geprügelt, unverbindlich geworden ist, soll wenigstens Recht billig genug sein, einem jeden seinen Lebensbereich zu gewährleisten. So entstanden als pis-aller, als Ersatz, die sogenannten Menschenrechte, mit denen jedoch wiederum viel Heuchelei getrieben wird, denn noch gilt nicht alles als Mensch, was diesen Anspruch hätte. Andererseits gibt es Raffer, die sich als Menschen, und die nichts anderes, ausgeben. Point d'argent, point de Suisse - et la porte fut close (Kein Geld, keine Hilfe! - und die Tür fiel ins Schloß). Le bazar de la solidarité, das Geschäft mit der Entwicklungshilfe setzt auch ein Denkmal - der Empörung!
Die Menschenrechtsbemühungen verschiedener Epochen, wie der Hammurabi Kodex, die Magna Carta (1215), die Bill of Rights (1689), der contrat social, der Esprit des lois, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, die französischen Menschenrechts-erklärungen von 1789, 1793 und 1795 (les droits de l'homme et du citoyen), bis hin zu den UN-Satzungen (der 1948er universellen Deklaration und der nachfolgenden Pakte), sind alles Meilensteine bzw. Mahnmale (paradigmatische Kulturdenkmäler) freiheitlicher Forderungen zur Anerkennung der Menschenwürde des andern. Wenn die Nächstenliebe zu hoch gegriffen war oder zuviel verlangt, dann soll doch wenigstens der Respekt, die Nichtvereinnahmung des andern gewährleistet sein, und die Sklavenjagd als Verbrechen gegen die Menschheit gebrandmarkt werden. Noch hat die Menschheit wenig mit Menschlichkeit gemein. Was immer man daraus zu drehen versucht, es kann nicht bestritten werden, daß die Menschenrechtsbekenntnisse jede Kultur angehen und zur Auseinandersetzung herausfordert. Insofern verbinden sie die Kulturen, obwohl einige sie als unverbindlich ansehen, davon als erste diejenige, die allen Grund hätte, so mustergültig zu sein wie sie es vorgibt. Die Unabhängigkeitserklärung hat ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Sie war schon immer eine Kriegserklärung gegenüber dem andern. Freiheitskämpfer fielen auf vielen Schlachtfeldern, zuletzt um Babylon, als Opfer uralter Riten. Menschenfresser sind einäugig, wie der Zyklop Polyphem, dem nur ein Niemand entrinnen kann. Ungeheuer kennen kein Alter (monsters have no age).
Das Unglück der Menschenrechtsforderung liegt darin, daß die Berechtigten bzw. Rechtsinhaber zwar theoretisch die Mittel, aber praktisch nicht die Macht haben, sich gegenüber dem verpflichteten Teil, dem Rechtsschuldner, d.i. dem Staat, dem sie angehören, durchzusetzen, wenn dieser sich querlegt. Das Gleichnis vom Tontopf gegen den Eisentopf versinnbildlicht die Rechtslage. Nun ist dies nichts Neues. Innerstaatlich, im sog. Rechtsstaat, sorgt das Verwaltungsrecht mit seinen Rekursmöglichkeiten, in Deutschland insbesondere das Verfassungsrecht dafür, daß der Einzelne vor den kompetenten Gerichten Gehör verlangen kann, aber auch dies schließt Rechtsbeugung selbst im Rechtsstaat nicht aus, insbesondere wenn der Richter nicht unbefangen ist. Jede Rechtsordnung steht unter dem Zeichen (Mahnmal) der Justitia. Diese hat zwar Waage und Schwert - beide gehören dem Staat - , aber sie ist blind und der Staat ist lahm, wenn es ums Recht des Individuums geht und von Amts wegen taub dazu, wenn der Interessenkonflikt zulasten des Staates entschieden werden müßte (Militärgeheimnis - secret défense). Verlangen kann man sein Recht immer, aber nicht vor der Gerechtigkeit, nur vorm Gericht. Was dabei herauskommt, kann kein Rechtsanwalt vorhersagen (dann könnte er seine Kanzlei zumachen), eher schon eine gewiefte Wahrsagerin.
Mangel an Rechtsschutz gilt für den andern wie für mich. Wie, wenn der andere sich schon in mir selbst regte? Odio et amo, sagte schon Catull und redete dem Plural majestatis und der Schizophrenie vor der Zeit das Wort. Die Flucht vor seinem eigenen Schatten verdrängt Selbstzufriedenheit und schürt Selbsthaß. Der Zwiespalt zwischen Rast und Unrast, Seßhaftigkeit und Wanderschaft, zwischen kainitischen und abelhaften Zügen im selben menschlichen Bewußtsein vertrieb den Menschen aus seiner Unschuld, setzte ihn auf die Straße. Die Völkerwanderung trug bis heute das ihre dazu bei. Der in Marseille geborene Araber hat keinen Platz im Heimatdorf seiner Eltern: erst wenn du arabisch kannst, komme wieder! Aber selbst dann spricht er die gleiche Sprache nicht. Ist der monumentale Koran das Verbindende jener Welt? Oder der Mondgott im Wandel seiner Phasen? Er ist es nicht und sollte es doch sein. Grundgebote bewegen sich zwischen soll und sein, wie jede Forderung. Sie sind koranisches, biblisches, talmudisches Gesetz und verlangen verbindlich Gehör. Sie sind Kulturdenkmäler und verlangen Anerkennung als Gründerschriften. Das Gleiche gilt für die Sanskrit-Denkmäler, wie die Bhagavatgita, Upanishaden, Vedanta usw.
Sie zeigen, daß Kultur immer auf Religion gründet, daß dementsprechend Kultur ein Verlangen beinhaltet und einer Ordnung bedarf. Die Forderung eines jeden solcher Denkmäler - jedes Denkmal enthält eine Aufforderung - wollen wir hier nicht näher untersuchen, sondern nur festhalten, daß sie, les gens du livre, die Völker der heiligen Schriften verbinden(10). Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Verbindung sieht ein jedes dieser Völker, mit Ausnahme der Buddhisten, im anderen nur den Verräter, den Abtrünnigen, den Ketzer, den andern eben, dessen Seele zu ihrer Rettung der Feuerprobe bedarf (Kreuz, Schwert und Scheiterhaufen). Somit, was diese kulturbegründenden Denkmäler miteinander verbindet, nicht im Text, sondern in dessen Verständnis, ist das Läuterungsgebot und, bei den Bibelkundigen, die Sorge ums eigene Heil und das des andern in dieser Welt mehr noch als in der andern. Soviel Nächstenliebe ist nicht jedermanns Sache und es ging vielen der davon Betroffenen darum, das Verbindende dieser Kulturen aufzukündigen. Wie schon erwähnt, zeugen neuere Denkmäler von diesen Bestrebungen.
Denkmäler sind bedeutsame Zeichen - Wahrzeichen -, sind Anziehungs- und Verbindungspunkte, weil sie zum Denken anregen wollen: Denk-mal! Es ist eine Konkretisierung des kategorischen Imperativs, der in dieser Form retten will, was zu retten ist für den Wittgensteinschen Fall vom erkenntnisträchtigen Fall. Das Kollektivbewußtsein (Gedächtnis) lebt vom Fall, dreht sich um den Fall, beschönigt den Fall und begründet damit überhaupt erst die Fähigkeit zu denken. Somit ist der Abbiß vom Baum der Erkenntnis die Grundlage aller Kultur, setzt das erste Denk-mal und bildet auch den Anfang des Wegs aller Religion zur Wiedereinbindung. Die Gnosis tut sich schwer, eschatologische Wege zu gehen und kommt an kein Ziel, weil das Wichtigste fehlt, wie allen Kirchen und Sekten, vielleicht sogar dem Paulus(11), wenngleich sie unverfroren das Gegenteil behaupten.
Eigentlich stellt jedes Kulturdenkmal eine Behauptung (Affirmation) dar, und damit eine Herausforderung zur Stellungnahme. Somit ist auch die Natur des Denkmals festgehalten: denkwürdiges Artefakt, Menschenwerk. Das Besondere am Denkmal als Menschenwerk ist, daß es lebt, daß die Erinnerung lebt und lebendig macht. Seine Lebenskraft erhält es aus dem Ansehen all derer, die sich um es sorgen, es be-sorgen. Ohne Sorge besteht es nicht. Die Sorge bekräftigt die Faszination und diese wiederum stärkt den Zulauf, der Marktgesetzen unterworfen ist. Seine Grenze, die auch jeder Werbung ihren Einflußbereich diktiert, bestimmt der Sättigungsgrad des Verbrauchers (Benutzers), nicht seine Einfalt, die maßlos ist.
Es gibt verschiedene Arten solch besorgter Artefakte, je nach Seinsebene:
1. unmittelbare (Örtlichkeiten), Tatsachen - Anblick - Welt 2. mittelbare, besprochene (Sprachmonumente), Meinungen - Ansicht - Rhetorik 3. bespiegelte (Reflektionen, Reaktionen), Gegenmeinungen - Zwischenblick: Interview - Kasuistik
d.h. ausgehend vom sinnlich erfaßbaren Denkmal (1) über das sprachlich erfaßbare, vermittelte (2) bis hin zum reflektiert vermittelten (3)
oder, anders ausgedrückt,
(1) Wirklichkeit, Kontext (2) Berichtswirklichkeit, Text (3) Reflektionswirklichkeit Epistemologie - Bekenntnis
oder auch
(1) Vorbild (Muster), (2) Abbild (Kopie), (3) Trugbild (mit Zeichenerklärung),
z.B. (1) die Tempel von Philae, (2) Bild von diesen, (3) Lageplan bzw. Beschreibung bzw. Erläuterung bzw. Erklärung der diesbezüglichen Aktion der UNESCO.
Während (1) die dauernde Gegenwart beansprucht (der Betrachtungsgegenstand ist immer da im Augenblick der Betrachtung), verkehren (2) und (3) immer mit der Vergangenheit, denn wenngleich der Betrachter auch geistesgegenwärtig den Text wahrnimmt, handelt dieser von und mit Vergangenem.
Diese Kategorien sind wandelbar. So wird eine Beschreibung zu einer neuen Wirklichkeit und ersetzt diese in ihrer Auswirkung, aber auch handfest Handwerkliches ist vom Handschriftlichen zu unterscheiden. In jedem Fall ist auch bei Monumenten Darstellung das Ausschlaggebende als Zeichen der materialisierten Idee. Platon ist nicht von der Hand zu weisen. Er hat seiner Idee in der Republik (politeia) ein Denkmal gesetzt. Die Kultur kann ihm nicht genug dafür danken. Doch die Idee bedarf vor allem der Sprache (Wort und Zeichen, parole et mot) zur Wahrnehmung. Die Sprache verbindet Geistiges mit Materiellem (Ton ist Schwingung und erstes Fixiermittel mit den bekannten Tafeln), Sprecher mit Zuhörer, Schreiber mit Leser. Außerdem begreift die Sprache die gesamte Palette der Phänomenologie: Farben, Formen, Düfte, Geschmack, Berührung, Bewegung, Gefühl, Klang und verbindet im Ausdruck alle Künste und alle Inventionen, Intentionen und Intonationen. Sie verbindet durch die Kunstdenkmäler deren Bewunderer (admirari = ansehen), ganz gleich welchem Kulturkreis sie angehören, denn die Sprache der Kunst ist universell im Zeichen (Bau, Bild), das jedem auf seine Weise verständlich ist, wie er sich im Staunen gleichermaßen ergeht. Deswegen gehört der Sprache auch das Feld der Kulturdenkmäler. Sie kann beanspruchen, davon zu künden in Rede und Schrift, und ihre Kunde kann Denkmäler setzen im Wettstreit mit der Architektur, deren Werke sie in manchen Glücksfällen an Langlebigkeit überdauert.
Dafür ein Beispiel: Herodots Bericht über die sieben Weltwunder hat diese überlebt(12) und dennoch ist deren Kunde Beweis genug für ihre Existenz. Somit klettert Herodots Berichtswirklichkeit eine Wirklichkeitsstufe höher. Sie ist Zeugnis, und ein Zeugnis ist, was man getrost nachhause tragen kann. Im Streitfall gilt es als Gutachten und regelt den Fall. Es gilt solange es besteht. Die Zeit spielt dabei sowieso nur eine untergeordnete Rolle, denn die Gegenwart ist immer die des Betrachters (des Zur-Kenntnis-Nehmenden), mittelbar oder unvermittelt. Welt-Anschauung folgt den Gedanken und ist deren Schöpfung, und Gedanken sind bekanntlich frei - von Zeit und Raum. Erst die Sprache macht sie verbindlich in Raum und Zeit, bildlich zuerst und dann als allwirkendes Zeichen. Ihr Einsatz sagt alles aus oder verbirgt, was zu verbergen ist, nach Maßgabe des Sprechers (la langue sert à cacher sa pensée = die Sprache dient zum Verbergen der Gedanken, statuierte Talleyrand perfide). Nur der Name ist verbindlich und bedeutet, wes Geistes der Träger ist. Der Stein des Anstoßes(13), wie der der Weisen, ist auch ein Monument, das in seiner Auswirkung besonders zum Nachdenken anregt. Die Gedenk-Funktion des Denkmals wird meistens übertrieben. Sie rührt von der falschen Einschätzung der Vergangenheit her. Das Verbindliche beim Denkmal liegt immer in der Gegenwart, in der Gewahrung der hic et nunc-Forderung und dem ihr Stattgeben. Der Anreiz sollte eine neue Sicht der Dinge, eine Neueinschätzung bei ihrem Betrachter bewirken, wenn er die nötige Aufmerksamkeit dazu mitbringt. Das wiederum bringt die Frage, wozu reist man?
1. Örtlichkeiten - eine Reise wert
1.1 Wanderschaft und Wandel der Faszination
Örtlichkeiten gehören zur Wirklichkeit erster Ordnung. Es geht dabei um sogenannte Sehenswürdigkeiten (Monumente, Ausstellungsstücke von Museen, Landschaften usw., aber nicht nur um die Properties der World Heritage Convention [WHC]). In alter Zeit waren es heilige Stätten, sichtbare Zeichen von Glaubwürdigkeit und Ziele von Pilgerfahrten. Man mußte an den Versammlungen teilgenommen haben, um glaubwürdig zu sein und mitreden zu können. Die Kunde aus erster Hand, wobei man selbst Berichterstatter ist, gilt in solchem Fall als Ausweis für Lebensart und Bildung. Reisen bildet war schon immer die Losung. Reisen führt bekanntlich zu größerem Verständnis der Welt (Weltgewandtheit) durch die Kenntnis anderer Gegebenheiten, durch die Notwendigkeit zur Verständigung und, in der Folge, größerer Sichtweite (élargir son horizon). Le grand tour lief dem Tourismus voraus, hat ihm vielleicht sogar den Namen gegeben. Massen bewegen heute Volkswirtschaften, eine ganze Reiseinformationsindustrie (i ) (Landkartenverleger, Reiseführer, Leute wie Dokumente, öffentliche Info-Stellen in jedem Ort (syndicats d'initiative!, offices de tourisme), Inserate, Broschüren usw. schüren Unruhe und Umsatz. Denkmäler werden belagert und von Souvenirhändlern beschlagnahmt. Tour operators versprechen bleibende Souvenirs von Kulturhöhepunkten. Das Angebot ist reichhaltig, die Annahme noch gut, aber Geschäft ist eben nicht Kultur, wenngleich diese das oberflächlich verbindliche Reisemotiv abgeben kann. Das theoretisch Verbindende wird zu unverbindlicher Banalität. Leonardo wird ver-Warhold. Die Verkostung Monalisas im Massenbetrieb des Louvre läßt unbekümmert, wie auch die Entheiligung (la profanation) der Pharaonengräber in Theben (Tal der Könige) oder Wien (Kapuzinergruft, von Sissis Grab abgesehen). Die Sorge um die Orte der Sammlung, die früheren Pilgerziele, wie Jerusalem, Olympia, Compostela, Benares, wich der Sehnsucht nach lucrum (Profitgier) der Veranstalter massiver Messen, und der Zulauf Erlebnissüchtiger ist Wasser auf ihre Billigangebotsmühlen.
Zunächst drei Beispiele für drei verschiedene Auswirkungen der Monumentalverbindlichkeit, d.h. ihrem Verständnis in Beantwortung der Frage, was verbindet der/den Besucher mit dem Denkmal?
a. Sphinx und große Pyramide zu Giseh oder was bleibt, wenn alles vergessen ist.
Hier, wie oft bei Stätten, deren Bedeutung mit ihrem Kult verloren ging, rätselt man vergeblich, was wohl der Bauzweck gewesen sein mochte. Da Totenkulte auch anderswo belegt sind, schließt man gewissenhaft auf einen solchen und findet auch Grabkammern - ohne Mumie oder Skelett und ohne Beilagen. Aus Wahrscheinlichkeit wird Tatsache. So pilgert heutzutage ein gewissenloser Besucherstrom an die Begräbnisstätte ihrer Überzeugung. Seiner Ahnungslosigkeit wäre mit der echten Tatsache besser gedient. Laut esoterischer Überlieferung handelte es sich bei beiden um eine Weisheitsschule zwecks Selbsterkenntnis, wie sie später die Griechen als Forderung der Gnosis übernahmen. (Daher der Name pyra mi dai = gib mir Weisheit - [nicht Wissen]). Mit dieser völlig neuen Erkenntnis wäre ihnen das Schändliche ihres Hinlaufens erspart. Jedoch sie merken's nicht!
Allerdings könnte man einräumen, daß deren Bewußtsein ohnehin auf Sparflamme läuft und selbst Gräber kaum etwas daran ändern können. Nun sind ja Gräber aufschlußreicher als jeglicher Text über eine Kultur, denn das Tor zur Weisheit ist wohl die Auseinandersetzung mit dem Tod. Aber darum geht es ihnen nicht. Worum es ihnen geht, ist das Mitschwimmen im Verbraucherstrom der Angeber und, wenn es hoch kommt, um den Schauder des Denkmals, und das wäre schon etwas, wenn es über das Schauderhafte eines Horrorfilms ginge.
b. Lessay im Cotentin (Manche, Frankreich) oder Marktgeschrei vertreibt die Stille
Dort findet seit Jahrhunderten am 2. Septemberwochenende ein Jahrmarkt statt, der früher Tausende von Wallfahrern anzog, vor allem wegen der Schreine in der Abtei. Man kam, sein Gewissen zu beruhigen und Hilfe von außen, oben zu erwarten, eine Verbindung zu suchen zu einer besseren Welt; man kam auch, um in Gesellschaft zu sein, sich anzuschließen, sein Los zu teilen und sein Leid mitzuteilen. Die Form der Schreine/Bauten spielte dabei keine Rolle. Die Pilgerfahrt war, wie jede, auch ein Weg nach innen. Das schloß nicht aus, gleichzeitig fürs äußere Wohl zu sorgen, Notwendiges zu ergattern. Dazu war der Jahrmarkt da. Aber er stand sub specie aeternitatis, im Zeichen absoluter Heilssuche.
Diese foire gibt es immer noch. 1500 Marktschreier betören jetzt Tausende von Besuchern mit viel Tand und Schund, bieten aber auch Nützliches an, während der Tempel geschlossen bleibt. Tatsächlich beachtet niemand die romanische Kirche des 11. Jht. in ihrer wiederhergestellten Pracht. Kein Gedanke mehr an Heil, an Verbindung zu höheren Gewalten. Die Bauten, die Zugang dazu anboten, bleiben verschlossen für Hilfesuchende wie für Kulturbeflissene bzw. Kunstliebhaber. Der Trubel ist keinem von ihnen hold. Die geistig-materielle Doppeldeckverbindung des früheren Anziehungspunktes ist verschwunden. Man fragt sich, wie kulturverbindend die Globalisierung mit chinesischem junk hier wirkt, an diesem Ort mit 2 Sternen auf dem Michelin-Atlas, hauptsächlich wegen der vollendeten romanischen Abteikirche. Übrigens, der Mont St. Michel nahebei kennt es nicht besser. Er lockt zwar noch mit seinen Baulichkeiten, dem Wunder (la Merveille) seines Kreuzgangs und seiner Meereslage im Gezeitenfluß, doch die Mönche sind weg, die Pilger gehen leer aus.
Zulauf wird Leerlauf, wenn der Geist verweht. Doch auch Steine sprechen, wie in Karnak und Carnac; ist aber der Besucher unfähig, diese Sprache zu verstehen, dann wird auch sein Ansuchen, so es unbewußt bleibt, unbeantwortet verwehen, und dennoch wird er berührt von dannen ziehen. Wer sprachlos kommt, geht auch sprachlos. So erklärt sich die Bewunderung, die ja keiner Sprache bedarf, nur unartikulierte Ausrufe kennt: A und O. Das unmittelbar Wesentliche umschließt Anfang und Ende, schließt kurz mit dem Rufer in der Nacht. So wird aber letztlich der Leerläufer sicherer beglückt als der Grübler, denn während jener seine Leere sprachlos füllen kann, kennt dieser keine Lösung seiner Nöte, weil er nicht ruft, sondern nur stöhnt und, voll mit Zwängen und FAQs, keinen Platz mehr für Änderungen, Antworten oder neue Programme hat. Zu etwas (1) gelangt man nur aus dem Nichts (0).
c. Speyer oder aus alt, mach neu!
Früher lockte Speyer mit seinem Dom und was dieser beinhaltet. Heute zieht SeaWorld mit dem Wohlwollen von Greenpeace ein junges Publikum an, ohne daß nur der leiseste Wink (link!) gegeben würde auf das altehrwürdige Kleinod der Stadt, zumal der Dom unweit des Aquariums steht. Ein Wal ist keine Sphinx und Tobias kein Ödipus. Diese Ausschließlichkeit verbietet Einvernehmen. Man kann daraus ersehen, wie aus natürlichen Verbindungen Trennungen werden zwischen Kultur und Natur, zwischen Einnahmen und Ausgaben. Das neue Standbein Speyers mag eine Prothese für einen kränkelnden Stadthaushalt sein, aber der alteingesessenen Kultur ist damit nicht gedient. Durch einen Umstieg solcher Art wird die ortseigene Bekenntniskraft unterhöhlt, verwässert wie durch Überschwemmung (Bau des Aquariums!) und letztlich weggespült. Selbst die Zugehörigkeit des Doms zur Liste der WHC verleiht ihm kein Mehr an Zulauf. Wie bereits betont, kehrt sich niemand daran, und nicht nur in Speyer, obwohl die Touristenmanager sich mehr davon versprachen. Der Erlebnisreiz von großen Fischen für kleine Fische ist bekanntlich (laut Herr K) sehr groß, für die kleinen gewiß größer als die Statik des Doms; umgekehrt wären die Besucher des Doms für Haie vielleicht nicht unempfänglich, aber darum geht es nicht. Auf zwei Gleisen kann immer nur ein Zug laufen, nämlich der, in dem man nicht sitzt (Relativitätstheorie). Man kann nicht einmal sagen, daß die großen Fische die Schau gestohlen hätten, denn die Ansicht ist unveräußerlich.
1.2 Kult-Kannibalismus
Kultur ist eine geistige Angelegenheit, geistiges Aufgebot, geistiges Verlangen und geistige Ernte. Dagegen steht das heutige Verlangen nach Spaß. Spaß, wie er jetzt vermarktet wird, entgeistert und macht nicht froh. Kultur ist in der Konsumgesellschaft zur Unterhaltung entartet. Zerstreuung vertreibt nicht nur die Zeit, sondern vor allem die nagenden Gedanken, denen man kurzfristig entflieht. Aber was bleibt bei digitalen Veranstaltungen wo immer, wenn nicht Verstörung. Schlimmer noch die Kannibalisierung des Zulaufs durch Terrorakte. Der Zauber fault dahin, wie die verhäßlichten Kürbisse des neuerdings sich rasant ausbreitenden amerikanischen Hexenkults. Aschenbrödels Stiefmutter ist es somit gelungen, eine Retourkutsche aus der dickschaligen Frucht zu machen (die Gurke!); nebenbei, der Zufall hat das Erntedankfest nahe an Allerheiligen gelegt, und dessen unheiliger Vorabend hat die heilige Nachfolge verseucht und verdrängt. Der Verbindlichkeitswechsel ist symptomatisch für den vorherrschenden Kult-Kannibalismus: ein altes Denkmal wird ideologisch unterwandert; denn jeder Tag der Jahresfolge stellt einen Gedenktag, ein Bekenntnisdenkmal dar, das überschattet wird durch die sich wiederholenden Wochentagsmarkierungen noch älterer Konfession, die aber niemand mehr bemerkt.
Die Kraft der Wiederholung treibt nicht nur Nägel ins Holz, sondern ist die verbindliche Triebfeder jeder Tradition. Die Wiederholung höhlt aber auch den Sinn aus und versucht diesen wiederzuholen durch weitere Wiederholung. Die Sprache bedient sich zu diesem Zweck der Tautologie. "Heute" wird zu "heutzutage" (im französischen "au jour d'aujourdhui", wo "hui", vom lateinischen hodie = dieser Tag- schon genügte und man es nicht dreimal zu beteuern hätte). Gedenktage verblassen, wie die Benennung der Wochentage. Ihr Denkmalcharakter verdunstet trotz oder gerade wegen dem Gebrauch. Das hängt mit der verwischenden Wohltat der Zeit zusammen. Nur das hartnäckige Bestehen auf Erinnerung, wie bei gewissen Nationalfeiertagen, vermag das Denkmal zu wahren. Jetzt ist man in Frankreich dabei, einen Feiertag zu streichen größerer "Produktivität" wegen. Der Pfingstmontag soll daran glauben. Niemand wagt, die blutrünstigen Gedenktage der beiden Weltkriege oder des 14. Juli (Feier der Französischen Revolution) abzuschaffen. Welchem guten Geist hat man zu verdanken, daß der Bartholomäusnacht(14) nicht mehr gedacht wird?
Wiederholen ist auch der Anspruch der Entrechteten, der unrechtmäßig Verdammten. RTS = reclaim the streets ist die Parole der Alternativmacht, die bestrebt ist, ihre Freiheit zu reklamieren, wiederzuholen, die Straße von der kommerziellen und politischen Reklame zu entrümpeln, sie herunterzureißen vom Sockel der falschen Verheißung auf das Pflaster der konkreten Projekte. Das ideologisierte Denkmal wird entsorgt (Good-bye Lenin) und auf menschenrechtliche Machbarkeit hin bewegt in der Suche nach der Verantwortung für den Übersetzungsfehler, der zu Sprachlosigkeit führte.
l.3 Anspruch auf Dauer
Alte Bindungen, wenn sie einmal brüchig geworden sind, können nur mit großer Vorsicht und unter Verlust erneuert bzw. ersetzt werden. Kultur kostet immer viel und bringt immer weniger ein. Deswegen steht Kultur, weil unrentabel, auf verlorenem Posten, wenn sie nicht ausartet in - Popkultur, Freßkultur wie in fastfood-, Trimfitkultur usw. Aber dann geschieht dem Wort dasselbe wie der "Dirne". Es wird umgelegt und unterkühlt. Der öde Selbstzweifel, der Zwang zu Sinnfindung zerfließt in der vorgeschriebenen Oberflächlichkeit von coolness(15), dem nichts widersteht in seiner Unnachahmlichkeit, weil ihm nichts zuwider ist. Diese Sparausgabe von Ironie setzt dem blasierten Kulturtrottel ein Denkmal, der überzeugt ist, in Anführungszeichen leben zu können. Wenn Selbstzweifel zu Selbstbetrug gediehen ist, bleibt von Kultur nur noch das Vorderteil übrig, wie die Kultobjekte von Pop, hip und hop bezeugen. Veruntreute Kultur weckt Mißtrauen. Was bleibt, wenn die Marken Bankrott gegangen sind und der Lärm der Reklame verstummt? Die vertriebene Stille wird schwerlich zurückfinden, um der verzagten Stimme der Eigen-schaft Gehör zu verschaffen. Das vorlaute Gefängnis übertönte zu lang die gefangenen Ansichten, daß sie der Vorschrift entgehen könnten, dem eigenen Denken zu entsagen. Doch der Anreiz zu anderem Denken kann von Kulturresten kommen.
Das Denkmal aus Stein, wie der Pont du Gard, das Aquadukt von Segovia, die chinesische Mauer, hat Anspruch auf Dauer. Es setzt, wie die meisten, der Zeit ein Denkmal, während sein Ruhm mit dem Stein zerfällt. Es entstand mit langwieriger Sorge. Sein Bestand überdauert jedoch in manchen Fällen das Kollektivbewußtsein, wie auf der Osterinsel oder bei Stonehenge. Das wirft Rätsel auf bzw. die teleologische Frage: wozu wurde es errichtet? Die Absicht, ein zeitüberdauerndes Zeichen für die Nachwelt zu setzen, trifft bei fast keinem Kulturdenkmal zu, mit einigen Ausnahmen, wie das Londoner Monument. Die Denkmal-Funktion wurde allen erst später aufoktroyiert. Dies tritt ganz krass bei UNESCOs Kulturerbesammlung zutage, wo ganze Stadtkerne, wie Bamberg, Brügge, Isfahan, Paris (les 2 Rives), Wien oder Landschaften (sites), wie das Donaudelta, Gavarnie, Jungfrau-Mönch-Eiger, in die Liste aufgenommen werden. Wer will schon in einem Denkmal, in der Vergangenheit leben, wenngleich auch manche moderne Stadt einem Friedhof gleicht? Bei Zombies gilt nicht die Sorge demOrt, in dem sie hausen.
Nicht viel besser ergeht es den Bewohnern von Orten, wie Floridas Celebration, der Disney Hauptstadt oder Cashmere im Staate Washington, das die einheimische Bonbonfabrik für ihre Reklamezwecke beschlagnahmt, wie seinerzeit ein Hosenmacher die beste Geschäftsstraße von Toronto oder 1997 ein Pariser Modekonzern die Weihnachtsbeleuchtung der Londoner Regent Street. Die Vereinnahmung von öffentlichem Raum für Privatzwecke ist durch die Werbung dermaßen eingerissen, daß auch Kulturräume und -veranstaltungen gegen solchen Mißbrauch nicht gefeit sind. Sie tragen insbesondere dann ihren Ruf, wenn nicht gar ihre Existenz, zu Markte, wenn sie "geschützt" sind, d.h. im Angebot liegen, denn die öffentliche Sorge verleiht ihnen gerade die Aufmerksamkeit, die erpresserische Absichten gebrauchen können. In dieser Welt zielt Absicht immer auf Erfolg, und die Lauterkeit der Mittel spielt nie eine Rolle, höchstens in der beteuernden Aussage.
Wie Helden, entstehen Kulturdenkmäler immer nach der Tat, d.h. sie werden nie als solche geschaffen, denn sie haben, sobald sie dazu werden, die Prüfung der Zeit schon hinter sich und erwerben durch ihre Einstufung den 3.Grad der zeitlosen Reflektionswirklichkeit, indem sie, archiviert, Teil eines Inventars werden, abgeschlossen, wie das Wissen im Wortschatz oder der Erfolg des Geschäfts. Solche Denkmäler vermeiden, auf Zeit zu spielen. Deswegen können Bestrebungen, wie die Mitterands (die Arche, die Pyramide des Louvre, die Bibliothèque Nationale) oder Pompidous (Beaubourg), sich mit Bauten einen dauerhaften Namen zu machen, schon allein wegen der schlechten Qualität ihrer Ausführung nicht von Dauer sein. Bereits die Ägyptologie zeigt, daß auch in Stein gemeißelte Namen keine Gewähr auf Andenken bieten. Anders als gewöhnliche Toponyme sind auch prominente Ortsnamen politisch wechselhaft, wovon z.B. die mindestens drei Namen von Stambul zeugen, und Zufälligkeiten unterworfen: Columbus hat Kolumbien nicht entdeckt, und Americo Vespucci sich nicht besonders um den Kontinent verdient gemacht. Niemand hat Waldseemüllers Irrtum berichtigt. "Amerikaner" gibt es erst seit 1684, und Inder und Indianer unterscheiden sich im französischen durch Indiens und Amérindiens. Babylon behält seine monumentale Ausstrahlung in Verbindung mit Turm, Gefangenschaft und Sprachenverwirrung. Die jüngsten Ereignisse zeigen, wie weitragend die Schatten der Vergangenheit sind, als man sich einen Namen machen wollte und nur baren Verruf erntete. Ein triftiger Beweis der Hinterhältigkeit des Irrtums und der Nachträglichkeit der Afterrede!
Wenn also Absicht bei der Konzeption von Kulturdenkmälern nicht zählt, weil die Geschichte ihr einen eher negativen Wert beimißt (Turmbau zu Babel) und moderne Anstalten in dieser Beziehung das Kontraproduktive bestätigen, darf man sich fragen, was diese Monumente letztlich dazu bestimmt?
1.4 Wie entsteht ein Denkmal?
Die Frage gilt nicht dem Ursprung, der die Tatsache gewesener Macht in den Resten bezeugt, wobei diese und deren Mythos wohl eher Folge als Grund des materiellen Machtwillens darstellen, obwohl zwischen Henne und Ei nicht einwandfrei entschieden werden kann: Helena als Belohnung des Paris-Urteils wäre ohne Homer kein Grund zum merkwürdigen Zwist geworden, und die daraus folgende Anwendung massiver Vernichtungsmittel hätte die Trümmer Trojas ruhmlos verrauchen lassen, denn schmutzige Kriege hat es immer und überall gegeben (den "sauberen" Golfkrieg gab es nur als Hirngespinst), und rühmliche Schlachten stehen am Anfang verlorener Sachen. Die Frage ist umständlich.
Ist es Zufall und Notwendigkeit (le hasard et la nécessité), die auch hier, wie im Neodarwinismus, die Hauptursachen für die Evolution zu echten Denkmälern ausmachen? Die falschen Prämissen der Evolutionslehre, haben einiges für sich bei der Entstehung von Kulturdenkmälern, deren Zweck, was Baulichkeiten anlangt, nie als zeichensetzend für die Nachwelt gedacht ist, sondern vorwiegend praktischen, lebensnotwendigen Überlegungen und Anforderungen entsprach. Die Voraussetzung der Notwendigkeit ist damit erfüllt, aber sinnfällig anders als von Denkmalpflegern gesehen.
Seien es also nun Dolmen, Obeliske, Sphingen, heilige Stätten, Burg- und Festungsanlangen (Bunker), Schlösser, Patrizierhäuser, Gärten, Thermen, Arenen, Strände, Felsen, Höhlen usw., sie dienten immer einem lebendigen Bedürfnis nach Schutz, Gottesverehrung, Prunk, Schicksalsbeeinflussung, Erholung usw. Man nehme behutsam einen schön behauenen scharfen Feuerstein zur Hand, der vor vielleicht achttausend Jahren als Mord-, Schab- oder Schneidwerkzeug diente, und denke darüber nach, was ihn wohl in seinem musealen Dasein vom damaligen Gebrauchszustand unterscheidet. Ob er überhaupt Beachtung verdient, von Achtung ganz zu schweigen. Und dennoch gibt es welche, wie die Speerspitze des amerikanischen Urjägers aus der europäischen Altsteinzeit (the Clovis point(16)), die Wendepunkte im Geschichtsverständnis darstellen und eine Meinungsänderung erzwingen.
Der Zufall, andererseits, spielt - wer an ihn glaubt - schon eine beachtliche Rolle, denn warum bleibt die Kunde von den sieben Weltwundern ohne Fossilien erhalten (auch ohne Pharos-Unterwasserforschung) wohingegen die Kunde von Atlantis nur ein platonisch mittelbares Denkmal bleibt, dessen Geläufigkeit wiederum vom Zufall gesteuert ist? Was erklärt, daß die Funde der Königsgräber im Tal bei Theben die Überlieferung der Geschichtsschreiber bestätigt, wohingegen andere Überlieferungen, wie die Arche Noah, die Gralsgeschichte, trotz Turiner Tuch, bisher nicht erhärtet werden konnten. Wo sind die Salzsäulenreste von Lots Frau, der Wein-Stein der Niobe? Natürlich könnte man billigerweise daraus schließen, daß es pure Erfindungen waren, wie ein Gutteil von Marco Polos Reisebericht über China. Andererseits gibt es Kulturgüter, wie die Nasca-Streifen ("Scharrbilder") in der Atacamawüste (seit 1994 in der Liste), die Denkmäler ohne Worte sind. Abu Simbel war eine Großaktion der UNESCO, die Katakomben von Alexandria wurden nicht gerettet. Warum haben Lügen lange Beine, wie die Begründung der römisch-katholischen Kirche(17) oder die konstantinischen Schenkungen, und warum verschwinden echte Entdecker, wie Eirik der Rote, im Papierkorb der Geschichte(18), ganz zu schweigen von den Soluträern (Altsteinzeitjägern) als Ureinwohner Amerikas? Warum verschwanden Byrons Tagebücher im Kamin seines viktorianischen Verlegers, während J. J. Rousseaus Selbstgerechtigkeiten noch die Gegenwart irritieren?
Welche Kräfte walten da, die man anders als Macht des Zufalls benennen könnte? Denn selbst Ränkespiele gehorchen demselben Gesetz der Unwahrscheinlichkeit: un coup de dés jamais n'abolira le hasard (= nie wird ein Fall des Würfels den Zufall überlisten), bekundete dumpf Stéphane Mallarmé. Der große Dichter war zwar auch Englischlehrer, kannte aber trotzdem Bayes' monumentales Werk über die Berechnung des Zufalls nicht.(19) Gute Gelegenheiten sind kahle Geschöpfe; schlechte erkennt man an ihrem ausgeprägten Schopf. Doch es könnte ja auch eine Perücke gewesen sein! Tücke erkennt man, sobald der Preis entrichtet ist. Um der Nachsicht den Stachel zu nehmen, hat Fu Hi im I Ging versucht, den unsteten Zufall ins Gebet der Vernunft zu nehmen. Der Kommentator Weng hat sein Weniges dazugetan, um auf alle Fälle gerüstet zu sein. Wie erfolgreich sie damit waren, zeigt das Schachspiel, das vielleicht auch ihrer Eingebung zu verdanken ist, und das sich besonders reizvoll zeigt, wenn das Brett zum Würfel wird.
Natürlich ist der Hauptüberlebensfaktor der Erhaltungszustand der Stätten und ihr Alter. Aus grauer Vorzeit gibt es nur Legenden und ein paar Steine und Fossilien. Aber Knochen sind keine Denkmäler, wie auch Menschen, Urheber, keine sind. Nur ihre brillanten oder dunklen Werke. In neuerer Zeit ist die Verheerung geringer, wenn auch Kriege schlimme Verwüstungen anrichteten und besonders Deutschlands Städte und Denkmäler systematisch von den Angloamerikanern zerschlagen wurden, während der Eiffelturm und selbst der schiefe Turm zu Pisa stehen blieben. Jeanne d'Arc's Kerker in Rouen blieb erhalten, wie der Brandgeruch ihres Scheiterhaufens, den die biedere Gedenkplakette am erzbischöflichen Palast an ihre 25 Jahre später erfolgte Rehabilitierung nicht vertreiben kann, aber nichts blieb von der Stadtumwallung von Orleans.
Die Jet-set hat ihre Treffpunkte an vielleicht zukünftigen memorials. Monaco, St. Tropez, Marbella, die kanarischen Inseln werden schon bewallfahrt. Aus der Pilgersucht ist jetzt ein Festival-Fieber entstanden, besonders in Südfrankreich, wo fast jedes dritte Dorf einen verehrungswürdigen Stein aus keltischer, römischer, westgotischer Vorzeit entdeckt, der zu einem festival Anlaß gibt. Wurden die Teutonen nicht 102 v.Chr. bei Aix (Aquae Sextiae) aufgerieben? Avignon hat längst aus der babylonischen Gefangenschaft der Päpste mit deren Palast Kapital geschlagen. Der Zufall hat jüngst den Zulauf zu diesen Kulturveranstaltungen durch den Streik der intermittants du spectacle (der kulturellen Freiberufler) beträchtlich verringert.
Alte Orte werden umfunktioniert mit oft imaginärem Bezug zu Gewesenem. Lesbos mag ein Parole-Beispiel sein oder Cumae, deren Monumentalruf nur auf der Literatur beruht. Olympische Spiele sind eine Pseudowiederbelebung von vergangener Größe. Echte Pisten, wie die der Seidenstraße oder der Weg nach Compostela werden touristisch angepaßt, d.h. verfälscht zwecks einfacheren Verkaufs (es gab nicht nur eine Straße). Deutschland wimmelt nur so von Straßen aller Art (Dichter, Limes, Salz, Sänger, Siegfried, Wein usw.) und Frankreich steht nicht zurück (la route des abbayes, des chateaux, de la transhumance). Erlaubt ist, was gefällt, auch wenn es nicht immer stimmt; Hauptsache, die Kasse stimmt!
1.5 Beweggründe
Was begründet den Zulauf? Die Anziehung des Ortes (Faszination) beruht anfangs auf einer eigenen geheimnisvollen Kraft (genius loci), die nach Zeichen verlangt. Wird dem stattgegeben, dann entsteht mit dem Zeichen (Bau) ein Ruf. Der Ruf wird zur Kunde und der Nachahmungsdrang tut den Rest. Der Ort mit seinen Wahrzeichen wird zum Pilgerziel aus dem Drang, zu sehen, was so viele gesehen, zu erleben, was so viele erlebt haben. Die Gewohnheit wird zur Vorschrift, wenn nicht umgekehrt, wie beim Schwarzen Stein (Kaaba) als Bestätigung des haram.
Die Macht der Gewohnheit ist nicht Plage, sondern Heilsdrang. Wenn ein Neugieriger erfährt, daß ein anderer mehr erfahren hat als er, dann strebt er danach, die vermeintliche Lücke in seinem Weltbild zu schließen, so gut er kann, und macht sich dann auf den Weg, den Mangel zu stillen und damit seine Welt zu heilen. Der Drang geht kollektiv und wird zum Trubel. Der Mangel kann auch verordnet werden von der Natur (Krankheit als Weg, Angst vor der Zukunft - Orakelsuche), von einer Obrigkeit (Prophet, Papst, Priester: Kreuzzüge), von einer sozialen Norm (Gedenken der Gefallenen) oder von einer Mode. Das aufgesuchte Denkmal ist zwar augenscheinliches Ziel des Pilgerstrebens, jedoch erfüllt (heilt) es die Erwartung nur nach Maßgabe des Glaubens. Die resultierende Verkündung begründet den Ruf, die Anziehung der Örtlichkeit. Berufene (Homer, Dante) glauben sich auf dem rechten Weg und setzen auch oft ihrerseits Denkmäler (s.2. infra) aus ihrer Überzeugung (die Odyssee, la Divina Commedia, die ignatianischen Exerzitien), wo der Weg (Ablauf, itinéraire) das Ziel verdeutlicht oder ersetzt. Odysseus kam als Bettler (Hans im Glück) wieder zuhause auf Ikaros an, nur von seinem Hund erkannt. Die Faszination wird in der Berichtswirklichkeit verdenkmalt, symbolisiert. Symbole in ihrer Vieldeutigkeit befruchten ihrerseits des Denkmals Faszination. Man denke an den Rattenfänger von Hameln, wo Geiz, (Geldgier), Hinterhältigkeit, Egoismus (Machtgier) durch Vertragsbruch die Zukunft aufs Spiel setzten: die Kinder verschwinden im Berg. Aber die Ratten sind wiedergekommen als Ausdruck der gebliebenen Laster, und der Rattenfänger ist, umgeschult als Politiker, wieder im Dienst.
Denkmäler sind sinnvoll. Chartres zum Beispiel steht für seine monumentale Kathedrale, wenn auch die Stadt selbst noch andere Sehenswürdigkeiten, wie die meisten solcher Orte, besitzt. Die Kirche wurde mehrmals wiedererstellt bzw. renoviert, wie sehr viele ähnlich gelegene Zeichen (Kathedralen, Tempel usw.). Des jetzigen Denkmals Kraft liegt in der unverwüstlichen Affirmation seiner Kunde, die der Bau ausstrahlt durch seine Proportionen, seine romanisch-gotischen Strukturen und Formen, sein inneres, glasfenstererläuterndes Licht, sowie durch seine hervorragende Lage. Es ist ein uralter Ort der Kraft. Die Priester haben gewechselt, aber sie hüten die Stätte gleichfort. Ihre Botschaft gilt jedem Besucher. Daher das Verbindliche in der Auswirkung: es ist eine Art ansteckender Ergriffenheit. Die Lage von Chartres ist darüber hinaus bestimmt durch die Einbindung in die Projektion des Sternbildes der Jungfrau (Virgo) auf den Boden Frankreichs, das der heilige Ludwig IX der Muttergottes geweiht hatte, mit Verbindungslinien zu den gleichaltrigen Notre-Dame von Le Mans (Abteikirche), Evreux, Bayeux, Rouen, Amiens, Reims, Paris (Kathedralen).(20)
Wie jedes Monument seinesgleichen, vermittelt Chartres dem Besucher einen Sinn, verspricht eine Antwort auf existentielle Fragen. Die Kathedrale mit ihrem Labyrinth hilft dem auf den Weg, der sich aufmachen will. Das sinngebende Versprechen liegt im Zeichen und klärt sich im Wort, das ein jeder, wie seinen Namen, in sich hört, wenn er dem Laut des Versprechens aufmerksam und einfältig folgt. Die geraden und krummen Linien der Kathedrale in all ihren Teilen bedeuten Gebote und Verbote und künden vom rechten Sein, von der heilen Welt, zeigen aber auch (wie könnte es der Vollständigkeit halber anders sein?), das Abgründige. Ohne Licht, kein Schatten. Verbote bedürfen der Erläuterung, das Streben nach Licht hoher Kraft durch Läuterung. Gerade die krummen Linien sind Zeichen der Liebe und Geduld des Allmächtigen. Es bedurfte der nicht-euklidischen Geometrie, um die Gerade auf der Kugel als Krumme zu relativieren.
1.6 Bekenntnis vs. Erkenntnis
Im Mittelalter lobte noch das Werk den Meister. Der Baumeister zeigt den Weg in der Demut seiner Instrumentalität, da der wahre Meister, wie in der Natur, verborgen bleibt. Ehre, wem Ehre gebühret! Im Gegensatz zu Bauten, wie der mythische Turm zu Babel oder Reiterdenkmälern, durch die man sich einen Namen machen will, sind echte Denkmäler aus anderer Sinnesart entstanden und werden dadurch verbindlich innerhalb ihrer Kulturen. Kein Denkmal verlangt nach internationaler Anerkennung. Sein Ruf entsteht aus einer Mischung aus Empfehlung und Faszination, seine Anziehung ist der Gewohnheit oder der Mode unterworfen, und heutige Besucherzahlen sagen nichts mehr aus über seine eigentliche Bedeutung bzw. den Sinngehalt seiner Botschaft, deren Rätselhaftigkeit auch keinen Maßstab für seine Popularität darstellt. Die Grabeskirche, die Alhambra, Varanasi oder die Ruinen von Luxor mögen gleiche Besucherströme aufweisen; ihre Botschaft verträgt keinen Vergleich. Nun drückt sich jedoch das interkulturell Verbindende in ihrer Popularität aus, wie wenig dies auch den Textkern trifft. Aber das ist die Wirkung des Isis-Schleiers, der in der Umhüllung schützt und doch anzieht: schützt vor Entweihung und anzieht, weil etwas dahintersteckt. Dieses Etwas ist das Hinzugetragene, die Erwartung der Besucher, die das Hintergründige befruchtet und belebt. Die Benutzerzahl wächst im Zug ihrer Freundlichkeit.
Ähnlich wie für Chartres liegt die Geschichte und Bedeutung berühmter Heiligtümer, wie Delphi, wie der Opferstein Abrahams, über den sich die Kuppel der Al Aksa Moschee wölbt, oder die Große Moschee von Damaskus; alles Orte, die zurückreichen in eine mythische Vergangenheit, aus der, wie in Lascaux, der Ruf der Schamane nachhallt, deren Gegenwart in die unsere hineinreicht durch die bildliche Anrufung geistiger Welten, die, außerhalb der Zeit, nach wie vor sich bewegen und wirken vor und am Ort. Die Berufung mag der Kern der Höhlenzeichnungen sein, wie auch der von Alta in Norwegen (1985), und es ist bezeichnend, daß der Zugang zu den Urbildern von Lascaux, der Erhaltung halber, gesperrt ist und man nur ein Abbild davon vor Ort besichtigen kann. Die Touristen begnügen sich mit dem Abbild, da sie in der Mehrzahl sowieso kaum Echtes von Falschem zu unterscheiden vermögen. Auch das Abbild ist hier noch lehrreich und farbig genug. Allein auf die Wirkung kommt es an. Die Genügsamkeit des Touristen, ja seine Unbedarftheit, ist das tägliche Brot der Tour Operators. Die Masse ist ja selbst Vervielfältigung und kann daher einzelnes, Originales schlecht ausstehen. So erfüllt die Kopie die Funktion der ihr genehmen Wissensvermittlung, wie überhaupt die Druckkunst das Schulwesen erst in Schwung brachte, nachdem die Klöster dazu gebracht worden waren, das Monopol der Pädagogik abzugeben, insbesondere aufgrund der Einsicht, daß die teenager der gehobenen Klasse (the military) kaum für klassische Bildung aufgeschlossen waren. Damit kommen wir zum zweiten Abschnitt unserer Betrachtung, eben über das Abbild.
2. Mittelbare Denkmäler - geistige Meilensteine
Eigentlich wirkt jedes Denkmal unmittelbar, ob es nun eigenständig ist oder von andern Denkmälern kündet, wie Herodots Bericht über die sieben Weltwunder oder die Bauanleitung für die Bundeslade. "Mittelbar" soll nur darauf verweisen, daß ein Original den Anlaß gab zu weiterer Entwicklung, wie etwa Goethes Urpflanze zu den Metamorphosen der Pflanzenwelt und Goethes Gedanken darüber, wie sie im Text dargelegt sind. Der Text ist das Mittelbare als Abbild und Ausdruck der Gedanken. Text vermittelt Wissen durch seine Sprache und stellt das Gerüst eines möglichen Denkmals dar, insofern er Anstoß und Ausgangspunkt zu eigenen, weiterführenden Gedanken ist, denn Wissen wird nur dann sinnvoll, wenn es dem Text, der Erwartung des Lesers entspricht (Reflektion). Die großen Texte finden mehr Kommentatoren als Leser. Sie bedürfen eines (Send)Boten, eines Übersetzers, eines Vermittlers (facteur, marieur), der aus der ursprünglichen Botschaft (le grand texte), dem Gebinde, seine Päckchen (son conditionnement) aussortiert und verteilt. Die Gefahr ist groß, daß daraus etwas ganz anderes entsteht, daß der Sinn entstellt, daß der Geist aus dem Wort vertrieben bzw. pervertiert wird, wie es den Schriftgelehrten und Pharisäern angelastet wird (la trahison des clercs). Aus Mangel an Ehrfurcht oder auch aus Furcht vor der Gewalt des Textes, haben sich schon manche Verunstaltungen eingeschlichen, ohne jedoch die Erheblichkeit des Originals zu beeinträchtigen. Das Vermittelte ist Reproduktion, Bestätigung der Erheblichkeit. Und die Reproduktion (eigentlich "Wiederschaffung") wird durch das "wieder" mittelbar und durch die Erheblichkeit maßgeblich. Fälschungen sind unerheblich, solange sie im Kleinhandel bleiben und nicht zu Unverständnis, Verwirrung und Mißbräuchen größeren Ausmaßes Anlaß geben, wohingegen Fälschungen von Mark und Bein, wie der Reliquienhandel, Undenkmale darstellen. Dazu gehören auch Fälschungen der göttlichen Gebote zwecks Rechtfertigung von Macht. Man kann nicht umhin, auf der negativen Seite auch die abschreckenden Mahnmale zu erwähnen, die Denkmale sein sollen, wie all das Gemäuer, das an Krieg und Horror erinnert und damit in tausendfacher Wiederholung (Kopie) furchtbaren Irrtümern das Wort redet: Wahnmale. Die menschlichen Schandtaten bedürfen keiner Denkmale, denn ihre ständige Wiederholung sollte Warnung genug sein, daß die Gegenwart und Zukunft keinen Mangel daran leiden.
2.1 Muster und Wiederholung
Der größeren Verbreitung wegen galt schon immer die Kopie als Muster der mitteilbaren Einsicht. Die Kopie war Ersatz für das Original und verdrängte dieses schließlich in eine unsichtbare Wirklichkeit. So entstand als maßgebliches Denkmal und Grundlage für die westliche Philosophie die platonische Idee. Die Grundlage ist das Fundament der Basis, übernahm Le Corbusier mit diesem Ausspruch später diese Idee für die Architektur und setzte sich damit, wie mit all seinen Bauten, selbst ein Denkmal. Die Nachwelt wird darüber zu urteilen haben, ob die Absicht fruchtete, ob überhaupt der Werker (wie ein Gaudí, Horta, Hundertwasser oder Tugendhat) seinen Ruf durch sein Werk auf die Dauer begründen kann. Verbindlich ist jedenfalls sein Wirken in dieser Hinsicht nicht. Da im platonischen Sinn sein höchstes Trachten nur Abbilder hervorbringt, die in der Materie lasten, sind sie mit dem Fluch der Materie beladen und folgen deren Bestimmung. Nur wenn ein lauterer Geist darin wirkt, können sie dem Los des Vergehens entgehen und als Text vielleicht dem Vergessen entkommen.
Abbild ist auch Wiederholung (répétition), d.h. besagte Idee wieder aus dem Reich der Schatten holen. Orpheus verlor seine Liebe durch die Einmaligkeit seines Zweifels. Eine Wiederholung seines Versuchs hätte die Wiederholung ermöglicht, aber sein Lied war Klage ohne Refrain. Andere, wie Gluck, nahmen die Verbindung wieder auf, folgten dem Muster und setzten mit ihrem Abbild ein neues Denkmal und Muster für weitere Abbilder. Nur die Wiederholung verleiht dem vorbeirauschenden Augenblick Anspruch auf Dauer in unserem Gedächtnis, macht die Gegenwart beständig. Die Barockmusik verstand sich gut auf das Einprägsame der Wiederholung, das in der Klassik zum Rondo wurde, zum Thema mit Variationen, Muster mit Abwandlungen. So gibt eins das andere, verbindet über die Zeit das Vorbild mit seinen Nachfahren durch Wiederholung und Neugestaltung, wie es in der Musik nicht anders geht. Übrigens ist Wiederholung auch das Wirkungsprinzip der Werbung, die mit Hammer und Nagel arbeitet bis das Muster sitzt. Hammer und Sichel haben trotz Wiederholung versagt, weil sie nicht zusammenpassen, weil ihnen die Synergie fehlte. Die Sichel allein hingegen erfreut sich ständiger Beliebtheit, besonders bei Öl- und Waffenjägern, und sie hat die mittelalterliche Sense erfolgreich ersetzt.
Bei der Wiederholung spielt wieder der Zufall eine gewisse Rolle: er bestimmt, wer was wiederholt. Die Klöster des Mittelalters waren eine sehr aktive Wiederholungseinrichtung, doch hatte damals die Kopie Eigenwert. Das Muster, über das der Zufall entschied, wurde nicht vervielfältigt, wie es heutzutage mechanisch geschieht, sondern beim Kopieren mit den Stärken und Schwächen des Kopisten behaftet, kurzum das, was später die Quantentheorie für den Beobachter feststellte, nämlich daß er das Resultat seiner Beobachtung beeinflußt, genau das geschah bei der Arbeit in der Schreibstube. Die Unstimmigkeiten belegen diesen Einfluß. Fehler schlichen sich ein, Verschönerungen, Verzierungen, Entstellungen verfälschten das Original. Ein neues, getreulich treuloses (fidèlement infildèle) Original entstand. Das Abbild wurde dem Vorbild fast gerecht und das genügte dem Zufall. Dieser sah z.B. zu, daß die Gedanken des Aristoteles über die Araber und die Übersetzerschule von Toledo (Alfonso el Sabio) in seinem Werk einigermaßen erhalten blieben und dem westlichen Denken ein verbindliches Grundmuster liefern konnten. Der Zufall verstand auch, die Kirche in ihrem Machtwahn unerträglich zu machen(21), sodaß eine Wiedererweckung, die "Renaissance" stattfand, die der Kirche eine andere Ideologie entgegensetzen konnte. Da es aber nichts Neues unter der Sonne gibt, galt es nur, Ausschau zu halten nach etwas, was wieder aus Altem neu eingesetzt werden konnte. (Die Idee des "Erbes" ist also auch nichts Neues). Da kam der Zufall mit seinem Aristoteles gerade recht. Warum gerade dieser und nicht andere, ebenso denkwürdige Denker, dergestalt herausgegriffen wurde aus der Vergessenheit, hängt eben nur mit der Willkür des Zufalls zusammen.
Wie ersichtlich, bietet das Abbild gute Voraussetzungen für einen dauerhaften Dienst. Unter Abbild bzw. Kopie ist aber nicht nur ein Konterfei zu verstehen, sondern auch, im weiteren Sinn, eine ab- und hineinlesbare Wiedergabe, genauso wie der Text des Bildes Beschreibung bzw. seiner Erläuterung ein eigenständiges Exemplar ist, wie es die Scholastik produzierte, eben thema con variazioni bis hin zu den Thomistischen Summae.
2.2 Abbildvernetzungen
Wenn schon jedes Zeichen eine Summe mit schwankender Valenz ist (une addition flottante, laut Derrida), gleich den Buchstaben der hebräischen bzw. griechischen Schrift, dann wächst der Sinngehalt von Zeichenverbindungen, von Texten, von Textsammlungen ins Exponentielle und es entsteht ein Universum, dessen Undurchsichtigkeit nur durch Allwissenheit und Allmacht geordnet sein kann. Darin findet auch die polyvalente Kopie ihren Rahmen. Und selbst das schemenhafte Abbild (le simulacre), das Vorgegebene, das Verstellte, sowie der Abklatsch, die Parodie, erhalten ihre Berechtigung als Hinweis auf die verborgene, verbogene, geleugnete Existenz, wie auch der Atheismus nur in bezug auf Gott seinen Schein wahren kann. Schattenbilder mögen Perfektionisten und Ganzheitsaposteln des Lichtmangels wegen verwerflich erscheinen, sie vermitteln dennoch eine Ahnung vom Urbild, und das genügt für die meisten Ansprüche. Das Gleiche gilt für Beschreibungen (Texte). Es ist letztlich das Resonanzprinzip, das in seiner durchschlagenden Kraft das Ursprüngliche zur Geltung bringt, die Refraktion (Spiegelung, Wiederholung) absegnet und authentifiziert.
Noch heute kennen wir die großen griechischen Maler nur aus Berichten, da kein Werk von ihnen mehr besteht. Seinen Ruhm verdankt Polygnotus dem Pausanias, seinem Apologeten. Damit wird wiederum die Idee der Verbindung deutlich, die von Denkmal zu Denkmal entsteht. Pausanias' Pellados Periegesis verbindet den Leser mit der verschwundenen Pracht antiker Fresken. Viele Zeichnungen, Gemälde, Skizzen, Texte zeugen ihrerseits von verschwundenen Kulturgütern, die, wie die Kultobjekte von Ausgrabungen, sonst nur Vermutungen blieben, die ersten für ihr Dasein, die zweiten für ihren Zweck.
Was wäre die italienische Malkunst ohne Vasari, die Skulptur ohne Alberti, die klassische Architektur ohne Palladio? Dank dieser Vorbildsammler, Exegeten und classificatori entstanden Verbindungen erster Ordnung: die als Vorbilder angepriesenen Bauten des Colliseums, des Pantheons, der Villa Rotonda wurden kopiert und, letztlich, enteignet und damit der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Die Sammlungen der Fürsten wurden zu Museen. Deren Monumentalfunktion ist doppelt durch Form und Inhalt, denn schon hat die Hülle Eigenwert bekommen, wie der Louvre, das Belvedere, Orsay, die Eremitage, die vielen Schlösser und Burgen. Die Darbietung des Inhalts ist erschöpfend, denn nach zwei Stunden ist man kaum mehr aufnahmefähig. Man ist bereit, fürderhin unbesehen jeder Bewunderung zuzustimmen, wie nach einem Tagesausflug auf der chinesischen Mauer. Man ist erschlagen vom Originalhandwerk aus der Zyklopenwerkstatt. Wer dächte hier an Kopie zwecks größerer Verbreitung?
Die manuelle Kopie, das Abbild, ist nicht Nachahmung (Fälschung bzw. Plagiat). Nur diese enteignet, verzerrt das Vorbild, aber dient ihm gerade dadurch wie die Lüge der Wahrheit. Verbindlich ist deswegen bis zu einem gewissen Grad auch das Abbild, da es unter der Autorität des Vorbildes (ent)steht. Stellvertretung schafft Verbindung viel leichter, gleichzeitiger, schneller als persönliches Auftreten. Deswegen entstand das Rechtsinstitut des Auftrags. Die Kopie sichert als dessen Stellvertreter dem Original seine Popularität. Es ging dabei weniger um präzise als um sinnliche Genauigkeit, die der Kopist nach bestem Wissen und Gewissen einhielt. Mit Wegfall des Kopisten entfiel auch der Deutungsspielraum und vor allem die durchscheinende Autorität des Vorbildes.
Das mechanische Abbild räumt mit dem Sinn auf. Die Wiederholung wird zur Vervielfältigung, wo nur noch die Zahl maßgeblich ist, denn die Genauigkeit ist als gegeben maschinell vorausgesetzt wie beim Drucken. Aber das Leben kann man nicht duplizieren, ohne seine Duplizität auszuschalten. Klonen dient zur Irreführung, wie es ja heißt, man lüge, wie gedruckt. Völlige Identität schafft Zweifel ob der Realität des Seins(22) oder der Wahrnehmung und verbürgt unlauteren Gewinn, wie beim unwahrscheinlichen Wettrennen zwischen Hase und Igel. Der Renner weiß von nichts und wird geleimt. Der Topos des Amphitryon hintergeht in ähnlicher Weise die pflichtgetreue Alkmene. Aus dem Trug entstanden ungleiche Zwillinge. Nur der monumentale Herkules blieb der Nachwelt ein Begriff. Von Iphikles spricht niemand mehr.
Daraus könnte man meinen (schließen), daß Götter nicht fürs Klonen sind, d.h. mit zwei kommen sie zurecht, aber nicht mit der Mehrzahl; das können allenfalls Halbgötter, wie besagter Herkules mit seinen zehntausend Jungfrauen. Man kann sich wirklich fragen, welchen Reiz er soviel farbloser Anonymität abgewinnen konnte, dieser Vorhut der Gefährtinnen der Hl. Ursula. Allenfalls Soldaten gewannen Treffen oft durch ihre Anzahl, wie im Schachspiel die indifferenten Bauern an Zahl die differenzierten Offiziere ausgleichen und manchmal zum entscheidenden Durchzug gelangen. Vorbei ist die Zeit, wo der Ritter im Turnier Farbe bekannte und durch seinen Ruf und seine Bravour dem Erbstreit, wie bei den Trente des Erbfolgekriegs der Bretagne, oder dem Ordal die entscheidende Wendung gab. Heute sind Gottesurteile passé. Es gilt nur die Masse, nicht einmal mehr der Menschen in Uniform, sondern der Zerstörung (die Suche nach Massenvernichtungswaffen war der dünne Vorwand des letzten Golfkrieges). Das Individuum hat ausgespielt. Selbst seine Vervielfältigung kann es nicht mehr retten. Seine Anonymität gilt nur seinesgleichen. Es trägt eine Nummer und kann, sollte es unter seiner vermeintlichen Verwechselbarkeit Unruhe stiften wollen, entziffert werden von denen, die über dem Frieden wachen, den sie allein für sich beanspruchen. Und dann ist es um ihn geschehen, nicht nur um seinen Frieden.
So geht es auch um die Zahl in jeder demokratischen Ordnung, wo die Zahl zur Anzahl wird mit der vorgegebenen größtmöglichen Möglichkeit für die größte Anzahl, Zugang zur Kultur zu pflegen. Zugegeben, einiges hat sich getan. Theoretisch kann man sich kultivieren, bewandert sein in den Schnitt- und Knotenpunkten (Denkmälern) seines Horizontes (Tellerrand, Bannkreis, Landesgrenze, Kontinentalsperre, Weltsicht). Bewandert ist der Wanderer, der zu den Originalen gepilgert ist oder deren Abbilder näher betrachtet hat und - sehr wichtig! -, der nicht müde wird, dies weiterhin zu tun und trotzdem offen bleibt für immer neue Anstrengungen, Zusammenhänge zu erkennen und Verbindungen herzustellen in seinem Kopf zwischen den kulturellen Errungenschaften (Denkmälern) seiner weiteren Umgebung nach Reichweite seiner Neugier, und diese lebendig zu erhalten. Aber wer will das schon? Trägheit ist eine demokratische Tugend.
2.3 Vom Drang des Abbildes
Und Neugierde ist ein demokratisches Laster, und man ist dabei, den Fragesteller wie ehemals den Kopisten durch einen mechanisch vervielfältigten Normalverbraucher mit eingebauter Ja-Stimme zwecks Wahrung der Demokratie zu ersetzen. Man könnte beiden doch, dem ausgestorbenen Kopisten, wie dem Fragesteller, ein Denkmal setzen, wie damals Napoléon als er bei Goethes Anblick ausrief: voilà un homme! Heute wäre es sicher angebrachter im Zug des Feminismus, das Weib zu suchen, das dahintersteckt, selbst auf die Gefahr hin, wie bei Goethe, daß es mehrere sind. Aragon sollte Recht behalten mit seinem Ausspruch: la femme est l'avenir de l'homme = die Frau ist des Mannes Zukunft. Damit dachte er vielleicht an das Aufreizende, das den Mann aus seinem Trübsinn zur Aktion aufstachelt oder sinngemäßer an ein Gemälde, jetzt im Musée d'Orsay, von Courbet mit dem Titel l'Origine du monde = der Ursprung der Welt, wo Eingang und Ausgang zusammenfinden in der Koncha der weiblichen Mitte, die zwar das schreiende Unbewußtsein in die Materie gebiert, aber nicht die Idee, daß der Ursprung letztlich doch in keinem Museum zu suchen ist.
Jedes Denkmal hat seinen Text, und Texte sind, wie gezeigt, vielseitige Zeichen. Sie erlauben auch Sammlungen, Klassifikationen, vermitteln Übersicht und Ordnung in der Fülle der Memorabilien. Damit erst entstand das so praktische Kollektivbewußtsein. Vor dem Text gab es dieses zwar auch, aber die Menge der mündlich überlieferten Daten wuchs mit der Zeit dermaßen an, daß dem Speicher im Hirn und der Oralität auf die Dauer nicht mehr zu trauen war. So schritt man zur schriftlichen Fixierung. Auch hier war der Zufall wieder am Werk, indem er unruhige Zeiten benutzte (wie die babylonische Gefangenschaft - war es keiner?), um z.B. die Torah festzusetzen als Gesetz. Das Kollektivbewußtsein hatte danach einen festeren Maßstab.
Denkmäler sind nicht nur Affirmationen, sondern auch Appelle (interpellations), Aufforderungen. So regte Homers Ilias Schliemann dazu an, Troja wieder!zufinden und Mykene auf den Verdacht auf Atlantis hin zu erkunden. Die Legende um Leif Erikson und Vinland reizte den Norweger Helge Ingstad, den Siedlungsspuren der Wikinger um das Jahr 1000 in Neufundland nachzugehen, um zu beweisen, daß die "Entdeckung" Amerikas andere Motive und Akteure hatte, als es die Geschichtsschreibung tradiert. Wen kümmert es?: Der Zufall spielt das Falsche hoch und blendet das Echte als unmaßgeblich aus.
Selbst der Zufall braucht Reife. So entstehen Dogmen, Monumente von Glaubensvorschriften, die mit der Wahrheit freigiebig umgehen. Was bleibt, sind die monumentalen Zusammenhänge, die aufschlußreichen, manchmal halbwahren Querverbindungen, die das eigentliche Objekt unserer Betrachtung darstellen und die eine ausgiebigere Untersuchung verdienten, wären sie nicht schon lange bekannt als Teil des Erbes der westlichen Kultur, wie ihn der Zufall zuließ. Es ist wiederum kein Zufall - wenn man der Redewendung trauen kann-, daß man heute sogar mit einem Welterbe handelt, als ob der Alte (Zufall) je ein Einvernehmen unter den Kulturen zugelassen hätte. Ihm ging es doch immer, nach seiner Behauptung, um Redlichkeit und Verständnis! Jetzt spricht er von Transparenz und Solidarität. Geistige Strömungen wechseln oft Richtung und Namen, aber der Sinn trügt nicht, da spiegelbildlich auch immer das Gegenteil dahintersteckt.
Vor der Kultur steht die Natur, deren Wissenschaften mit einer Menge Denkmäler aufwarten können, welche die Welt jeweils anders anschauen lassen. Solche Sprünge (Paradigmenwechsel) verursachenden Monumente verdanken wir z.B. Ptolemäus, Kopernikus, Kepler, Darwin, Maxwell, Einstein, Planck, Schrödinger u.a., wobei allerdings zu bemerken ist, daß die von ihren Nachfolgern erarbeiteten Erklärungsmodelle des Universums nur phänomenologisch verständlich sind, d.h. der den fünf Sinnen zugänglichen, meßbar erfaßbaren materiellen Welt. Dahinter steckt mehr als ein materielles Spiegelbild. Dahinter steckt die andere Dimension, die zwar teilweise in sogenannten Naturgesetzen und -kräften "entdeckt" und dargelegt wird, aber der Geist des Ganzen ist aus den Teilen entwichen, in deren Detail nur noch der Ungeist steckt. Der Zufall hatte nicht nur bei der Evolutionslehre, sondern auch bei deren Entdeckung seine Hand im Spiel und man kann sich fragen, warum man ihm bisher noch nie ein Denkmal gesetzt hat, wenngleich Jacques Monods schon zitiertes Werk ("le hasard et la nécessité") als diesbezüglicher Teilansatz zu werten ist. Der Kommentar zu diesem Opus gehört eigentlich schon ins nächste Kapitel. Die harte Wissenschaft glaubt sich begabt, die Religion bzw. die Kirche zu ersetzen, indem sie genauso fanatisch diejenigen verfolgt, die ihre Dogmen bestreiten. Der Hexenhammer ist sicher ein Denkmal, das die Wissenschaft mit Nachdruck als auf sie unzutreffend erklären würde, wäre ihr überhaupt das ideologische Vorbild bekannt. Wissenschaftler sind oft unbedarft, wie Sportler. Beiden fehlt es häufig an Sprache, das auszudrücken, woran es ihnen ohnehin mangelt, nicht an Überzeugung, sondern an Selbstkritikfähigkeit. Die erste schließt die zweite aus, hindert aber nicht am Reden. Feststellungen bedürfen keiner Rechtfertigung und wo alle, im Fach, das Gleiche denken, wird nicht viel gedacht, wenn überhaupt.
3. Spiegelungen
Spiegelungen sind faszinierend und wechselhaft, wie das Licht, und verabfolgen unendliche Dimensionen. Spiegel und Spiel verführen in ähnlicher Weise zu Erstaunen oder Unbedenklichkeit. Denken ist spiegeln (réfléchir), zeitlich verschoben "nach-denken"(23) und räumlich erhaben, "überdenken", aber auch "überlegen", - was tun im Irrgarten der abertausend Fassetten und Spiegel, wie sie Wörter und Gedanken hervorzaubern. Da diese Tätigkeit im Verborgenen geschieht - der Geist arbeitet hinter der verschleiernden Materie- kann sie nur mittelbar durch den Ton, die Äußerung in der Sprache, erkannt und beurteilt werden. Verlautbarungen stellen nur einen Teil der tatsächlichen Denkprozesse dar. Der verborgene Teil hängt vom spezifischen Gewicht der Gedanken im eiskalten Wasser des Verstandes ab. Das ganze schwimmende Ungeheuer wiederum steht unter dem Einfluß des Temperaments des Sprechers und dessen Denk-mal-Fähigkeit. Schwätzer betäuben sich gern mit seichtem Gerede(24), machen sich aber kaum Gedanken dabei.
Meinung wird entschieden kolportiert als Literatur: Metamorphose nackter Fakten in Merkwürdigkeiten. Wissenschaftler hingegen glauben, schweres Gedankengut zielstrebiger zu bewegen (Naturgesetze erforschend), weil sie Einwandfreiheit bemühen und die Logik ihr Instrumentarium liefert, ohne dabei zu bedenken, daß sie der Statistik auflaufen, indem sie von Annahmen und Wahrscheinlichkeiten unvermittelt auf Gewißheiten schließen, ohne die Kurzschlüßigkeit bemerken zu wollen.
Die dadurch verursachten Irrtümer und Fehlurteile werden entweder nicht bemerkt oder in Grundwahrheiten umgewandelt, denn Versuch und Irrtum (trial and error) ist die harte Methodik der Wissenschaft. Wer an den dekretierten Grundfesten zu rütteln wagt, wird verständlicherweise mit Fluch und Bann belegt. So entstanden die Denkverbotsdogmen des Big Bang, der Expansion des Universums, der Kernfusionsglaube an die Sonne, der jetzt soweit "eingeschlagen" hat, daß Milliardenbeträge bereitgestellt werden, um ITER zu finanzieren(25)
. Ein neuer Turm Babylons ist geplant, ein künftiges Denkmal menschlichen Aberwitzes. Der Zufall spielt mit präparierten Würfeln. Die Irrtumswahrscheinlichkeit künftiger Undenkmale liegt außerhalb dieser Betrachtung.
Schließlich bewegt man sich bei Wissenschaft und Technik auf einem Feld, wo die Wahrheit nicht relativiert und zu einer Meinungsfrage abgewimmelt werden kann.
3.1 Meinung und Tatsache
3.1.1 Kontext, Text und Verständnis
Tatsachen dienen dem Text als Kontext, tragen also zum Verständnis bei, denn dieses orientiert sich an den Zusammenhängen bzw. Umständen aus denen der Text (Sinn) entsteht und Ansichten bildet, deren Konfrontation erst das Gesamtbild einer Gegebenheit ausmacht. Verständnis steht Tatsachen ruhig gegenüber, erregt sich aber leicht, wenn es auf Meinung trifft, weil bei Tatsachen eine Auseinandersetzung nur die Einsicht bringt, daß man sich damit abfinden oder eine Änderung herbeiführen muß, wenn man die dazu nötige Macht hat. Die Bilanz ist einfach und erfordert keine Emotion.
Ganz anders liegen die Dinge bei Meinung, die an sich schon die Machtfrage stellt (durch Behauptung). Sich damit abfinden, gelingt in den wenigsten Fällen, sie annehmen, bedeutet eine Unterordnung und sie ändern wollen, bei sich oder dem Gegenüber, führt zu einer Beeinträchtigung der Willensfreiheit und erfordert einen Kraftaufwand, der meist unverhältnismäßig zum Ergebnis steht. Dieses im Grunde nur intuitiv wahrgenommene Unverhältnis fordert die Vernunft heraus, die heftig reagiert, weil sie sich in ihrer Bequemlichkeit gestört fühlt. Viel wäre zu sagen über diese Verquickung, was vielleicht das gesamte Kantsche System in ein neues Licht rücken würde; das ist aber ein ganz anderes Thema. Vielmehr gilt es hier nur festzuhalten, daß die Relativität von Meinung an sich schon eine Herausforderung darstellt und Machtansprüche auf den Plan ruft, die sogar interne Zerrissenheit bewirken können zwischen Ablehnung (odio) und Bewunderung (amo) im selben Betrachter hinsichtlich desselben Objekts, je nach Stimmungslage und Verdauungsstadium (ventre affamé n'a point d'oreille = knurrender Magen hört nichts anderes). Aus dieser Gegebenheit erhellt sich das Unvermeidliche des Meinungskriegs, der in den meisten Fällen unblutig abläuft, weil das Ego seiner Stärke und Rechtslage nicht so sicher ist und es deswegen vorzieht, den Klügeren zu spielen, d.h. sich allein an seinen eigenen Text zu halten. Dieser entsteht aus der Reflektion.
Tatsächlich spiegeln sich Sehenswürdigkeiten im Betrachter, und dies kann zur Aussage über den Sachverhalt des Denkmals in seinem Gedankengeflecht führen mit der Zugabe seiner Emotion. Doch nicht jede Begegnung zeugt ein Kind, denn große Gefahr ist im Strampelanzug. Meinungskrieg nimmt dann andere Proportionen an, der mit Hypertext zu tun hat. Aber zurück zu ruhigeren Fahrwassern. Reiseberichte sind verörtlichte Romane, und Reiseführer wiederum berufen sich anhand der beschriebenen Örtlichkeiten auf Dokumente (Berichte, Bilder, Chroniken, Pläne, Rechnungen usw.), die als Primärquellen bereits Spiegelungen ersten Grades darstellen und damit ein eigenes Licht auf das betroffene Denkmal werfen. Die Albedo(26) des Texts generiert kunstvolles Leben, wie es Henry James verstand (the arts create life by saving and restoring it in infinite facets of reflection). Überhaupt ist jeder Text Spiegelung und Abbildung von Eindrücken auf Dauer. Prousts Aufzeichnungen, z.B., spiegeln eine Gesellschaft, die nur mehr im Text aufbewahrt bleibt. Das Abbild ist aber verformt durch die Sicht des Berichterstatters, sodaß bereits in diesen Quellen Meinung über Tatsache geht. Die tatsächlichen Erscheinungen sind für immer verloren (on ne peut sauver les apparences).
Auf den Primärquellen gedeiht die sog. Sekundärliteratur, deren Texte ihrerseits Quellen für weitere Spiegelungen abgeben können. Auf die direkte Rede des Betrachters, die vorwiegend emotionell getönt ist, pfropft sich die indirekte, vorwiegend intellektuell getönte Rede des Kommentators. Dessen Rolle ist ungemein wichtig zum Textverständnis. Sein Vorurteil zeigt sich an seinem Urteil (Meinung) und ermöglicht dem Leser sein eigenes Vorurteil anhand des neuen fundierten Meinungsangebots zu messen und seine eigene Meinung gegebenenfalls zu ändern. Diese Meinungsbildung ist bildungsfördernd und führt zu dem, was man in akademischen Kreisen als Wissensfundus ansieht (= Ansicht = Meinung), aber nichts anderes ist als geltende bzw. vorherrschende Lehrmeinung. So steht Wissen immer noch auf tönernen Füßen, wie es seinerzeit auf tönernen Tafeln stand. Um ihm mehr Tonus zu geben, flüchten die akademischen (oder religiösen)(27) Meinungsmacher ins Unverständliche, ja in Irrlehren, und nennen es, das Wissen, Doktrin (Lehrmeinung) und verordnen es als Dogma (gr. Meinung, Verordnung, Lehrsatz) unter Androhung von Strafe für jegliche Abweichung. Strafe ist hier nichts anderes als das Faustrecht des Irrtums der Mehrheit. Die größte Strafe ist vielleicht, daß Wissen sich nicht rückgängig machen läßt. Es ist eine Frage der Reife, inwieweit eine Ansicht überhaupt noch herausfordernd wirkt, würde Schopenhauer ungehalten meinen.(28) Gewalt steht der Wahrheit fern, und doch muß diese sich Gewalt antun, um im Verborgenen zu bleiben, wenn der dummdreiste Irrtum herausfordernd das Feld behauptet(29). Wie bösartig Meinung ist, kann man daraus erkennen, daß alle Kriege von Meinung ausgehen, und zwar von der hohen Meinung, die man von sich selbst hat, und der man Gehör verschaffen muß, indem man sie um jeden Preis durchsetzt. Der Gewinn davon ist in keinem Denkmal verewigt, weil der Rauch der Ruinen schlecht Druckerschwärze abgibt und die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, die mit Ruhm und nicht mit schnödem Gewinn handeln.
Die fröhliche Wissenschaft und die bleierne Theologie teilen sich kein Monopol, was Meinung anlangt. Selbst Tatsachenberichte sind nichts anderes als Meinungsäußerungen eben über dargestellte Tatsachen. Schon allein das Wie der Darstellung zeigt die Färbung der Information zwecks Inszenierung und Kommunikation der eigenen Ansicht. Der ganze Medienkult dreht sich um den goldenen Pokal der Marktbeherrschung: wessen Meinung setzt sich durch?! Der Meinungskrieg besteht seit Erfindung der Schrift, wurde mit dem Gutenbergdenkmal immer erbitterter, fatal mit Aufkommen der Zeitung (der Zeit R. B. Sheridans "School for Scandal", 1777) und nimmt mit den Medien jetzt Ausmaße an, die nur dank der Rufmordgesetze (libel and slander) einigermaßen "im Rahmen" bleiben. Bereits Voltaires literarische Hauptbeschäftigung galt der Selbstbehauptung im Meinungsgemetzel. Heute braucht man nur die sog. Nachrichten einzuschalten, um festzustellen, daß statt Information Meinung angeboten wird, die sich zwar objektiv gibt, aber die "Versachlichung" ist nichts anderes als Verschleierung der Tatsachen und dient zu besserem "Verkauf".
Das tritt ganz offensichtlich in der Wissenschaft zutage. Sie verwahrt sich gegen Leidenschaft und bietet die Garantie der Nachvollziehbarkeit, d.h. die Einladung, ihr in ihr Labyrinth zu folgen, in dessen Mitte jeder Zweifel, gleich dem Ikaros, auffliegt. Doch ist dieser Irrgarten kein Denkmal, wie es die griechische Sekundärliteratur hinterließ, sondern eher ein Schlachtfeld der Intuition und der Ehrbarkeit. Es ist der Ort, Irrtümer auf ihre Langlebigkeit und Marktfähigkeit hin zu prüfen und die diesbezüglich gängigsten Rezepturen auszuprobieren (la science c'est un ensemble de recettes qui marchent = die Wissenschaft ist eine Sammlung von gelungenen Rezepten). Die unheimlichen Zwillinge, Wissenschaft und Technik, deren Monument noch aussteht, (denn Castor und Pollux sind Waisenkinder gegenüber deren Untaten, und, jeder Verwechslung vorbeugend, haben sie sich auch wohlweislich an den Himmel zurückgezogen), haben die Nachvollziehbarkeit zum allgültigen Credo erhoben und damit der Massenproduktion, der Globalisierung und der Ideologie der Kommunikation Vorschub geleistet. Schlimmer noch ist deren schleichender Anspruch auf Unfehlbarkeit, sowie die Überheblichkeit in der Erforschung des Lebendigen (Gentechnik). Die Medizin verspricht immer mehr als sie halten kann - noch nie gab es so viele Kranke wie jetzt - . nur daß sie, im Gegensatz zur Politik, riskiert, dafür abrechnen zu müssen.
In den Humanwissenschaften strebt man in die gleiche Richtung. Aus Ideen werden Schulen, Monumental-ismen, Neo-ismen, mit angeblichen Massenbewegungen, gemessen an Mitläufern, Abnehmern, verbrieften Erfolgsquoten und ähnlichen Maßstäben. Die Medien stehen beim Tendenz-Vertrieb und heiligen Profanmessen Pate. Einschaltquoten und Informationsmarktanteile (R. Murdoch hat davon 3/5tel weltweit und der Rest tendiert ebenfalls Citizen Cane als Musterbeispiel anzusehen) werden an der Meinungsbörse gehandelt. Im Gegensatz zu seinem Namen, erlaubt das "Fern"-sehen nicht, auf Distanz zu gehen und einen kühlen Überblick zu bewahren. Auch Denkmäler werden in sog. Dokumentarfolgen bemüht, wobei man ignorieren möchte, daß Denkmäler sich schlecht vermarkten lassen, und deren Zulauf auf anderen Reizen beruht als Reklame, Hyperlative (die älteste Stele, das besterhaltene Abwassersystem, die steilste Festung, die dickste Lüge) und Produktgewährleistung, nämlich vor allem auf dem Reiz der offenen Frage, der Selbstdeutungsherausforderung. Nicht Logik, Begrifflichkeit, Klarsicht, sondern Dämmerlicht, monumentale Undurchsichtigkeit, Unordnung fördern Talente, die damit aufräumen können, stimulieren Phantasie und verhelfen zu Träumen. (rêver et penser sont de même substance, Paul Valéry).
Der Verkaufswert von Meinung hat den Tatsachen das Wasser abgegraben, wie die Marke dem Produkt auf dem lifestyle Markt. Dort gilt das Pharmagesetz, wonach die teuren Markenpräparate (proprietary drugs) die namenlosen billigen Wirkstoffe aus dem Handel vertreiben (Heilpflanzen und Homöopathie sind auf Betreiben des Pharma-Industrie-Lobbys geächtet, ungeachtet der Pleite der Krankenversicherung). Wie die Meinung, verspricht die Marke mehr, als sie halten kann: Freude, Glück und Lebensinhalt mit Produkten (Tatsachen), die der Markenbesitzer nach Gutdünken austauschen kann, je nachdem welcher Renner das Rennen machen soll. Das Sportgeschäft ist richtungsweisend in dieser Hinsicht (sporting games = tricks!), wo sogar verpflichtete Preisgewinner nach Bedarf ausgespielt werden, also keine Tatsache mehr gilt, weder Produkt noch Werbeträger. Im Angebot steht dort auch kein Denkmal mehr, wenn es die Aufmerksamkeit der bestimmenden Marktstrategen nicht erregt. Ihre Meinung allein verleiht ihm gegebenenfalls kurzfristig noch einen Wert, z.B. als Vektor für Graffitiwerbung auf seinen rissigen Flächen. Die Trajansäule, Napoleons Colonne Vendôme oder der Obelisk der Place de la Concorde wären geeignete Objekte in dieser Hinsicht. Nur die Beschriftung müßte einem kräftigeren Design weichen.
3.1.2 Die Korrektur falscher Weltbilder
Der einzige Bereich der Humanwissenschaften, der klar zwischen Tatsache und Meinung unterscheidet, ist nicht die Philosophie, die ja ausschließlich mit Meinung handelt, sondern das Recht, und zwar nach Maßgabe von Befugnis und Erheblichkeit. Aber auch hier schlägt Meinung Tatsache, denn der Befugte (Richter) entscheidet vermittels seiner Kompetenzgewalt über die Erheblichkeit der angeführten Tatsachen, aber die Trennung zwischen beiden bleibt gewahrt, solange die Befindlichkeit des Richters in der Tat verweilt. Sein Dafürhalten (Meinung) stellt einen Sachverhalt fest und wird so zu einem Rechtsakt (Tatsache). Seine Meinung schafft Recht; wie rechtschaffen er dabei ist, ist unerheblich. Das gilt für den Gesetzgeber wie für den Richter. Das Gesetz ist Denkmal nur in der Anwendung. Die monumentalen Gesetzessammlungen bedeuten nichts außerhalb der dazugehörigen Rechtsordnung und selbst dort bleiben sie tote Buchstaben bis sie von Fall zu Fall bewegt werden von dem dazu ermächtigten Beweger, dem Richter.
Sein Handeln ist eine Tat-sache, die ein Urteil (Meinung) bewirkt (fällt), das nach Ablauf bestimmter Fristen Geltung erlangt, wenn kein Einspruch erhoben worden ist. Hier führt also Tat-sache zu Meinung, die durch das gefällte Urteil ihrerseits eine neue Tatsache bewirkt (Prozeß führt zu Ergebnis). Die richterliche Handlung erfolgt in einem Ermessensspielraum, wohinein wiederum Tatsachen (Akte, Beweise) und Meinungen ([An]Klage-, Verteidigungsschriften, -reden, Erhebungen, Untersuchungsergebnisse, Gutachten) eingeführt werden, über deren Erheblichkeit (Anerkennung) der Richter bzw. die jury allein entscheidet, und mehr noch: ob schuldig oder nicht schuldig befindet die letzte Instanz und sagt, was tatsächlich ist. Damit hat die Gesellschaft ein Mittel gefunden, die Wahrheit zu bestimmen, indem sie sie relativiert. Schon allein deswegen sind Urteile Siegesdenkmäler der spitzfindigen Relativität, die das Absolute, die Wahrheit, in eine Wahrheit degradiert. Daß ein Urteil eine harte Tatsache darstellt, erhellt sich aus der bitteren Notwendigkeit der Zahlung, denn jeder Gerichtsentscheid zwingt zum Strafvollzug(30): Geld oder Freiheit, wie Gerichtsvollzieher und Gefängnis zur Genüge erhärten. Aus dieser Tatsache wird ersichtlich, daß genau deswegen die tatsächlichen Rechtsdenkmäler Gerichtsurteile sind und nicht Gesetzestexte, wie der Codex Justinianus oder ähnliche Sammlungen (Siete Partidas, Sachsenspiegel, le Coutumier de Normandie, das preußische Landrecht, Verfassungen usw.). Dies wird im angloamerikanischen Recht besonders deutlich durch die Vorschrift des Präzedenzfalls.
Allerdings kann kein Recht bestehen ohne eine durchgehend freiwillige Befolgung des Gesetzes aus vernünftiger Überlegung, wonach man leichter nach den Regeln fährt.(31) Gehorsam ist demnach die überwiegende Übung. Ob dies aus Vernunft oder Bequemlichkeit geschieht, soll dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich ist es eine Frage der Reife und dann ein Zeugnis dafür, daß letztlich vielleicht doch die Vernunft obwaltet, nachdem genügend Hörner abgestoßen worden sind. So hat auch, positiv, die Gesetzestreue ihr ehrwürdiges Denkmal im pater familias, der z.B. im englischen Recht als reasonable man hochgehalten wird (entspricht im franz. ungef. dem bon père de famille). Man kann dabei aufhorchen, denn es könnte ja sein, daß die Ausnahme als nachahmungswürdig ausgewiesen wird in Rechtssystemen, wo die wildeste Rechthaberei das Feld behauptet zur Freude der National Rifle Association,(32) denn in ruhigeren Systemen sucht man vergeblich nach solch angeprießenen Musterschülern. In der Literatur gibt es zwar dort abschreckende Gegenstücke, so unser Michael Kohlhaas, der die Gesetzesdrohung in ihrer ganzen Konsequenz aufzeigt und damit aufmüpfigen Regungen ein warnendes "denk-mal" setzt, aber Literatur ist eben kein Recht. Allerdings sprechen solche Denkmäler Bände über die Gemütsverfassung der Normadressaten und die gerissenen Manipulatoren, die wissen, mit Stock und Karotte umzugehen indem sie vorgeben, für Ordnung zu sorgen. Gewaltlose Schlichtung von Streit gilt innen, während außen die Waffenindustrie ihren Absatz sichern kann. Vorletztes Jahr betrugen die Rüstungsausgaben des Steinhauer-Imperiums 42% des diesbezüglichen Weltaufwandes in Vorbereitung der gewalttätigen Suche nach Öl und Massenvernichtungswaffen im Golf. Der Mißerfolg des Vaters sollte dem Sohn ein warnendes Beispiel sein. Auch Marc Aurel soll schon gewarnt haben: Imperium superat regnum = das Reich (Imperium) verlangt mehr denn Herrschaft, d.h. die Reichsgewalt ist mächtiger als alle Reichsverweser. Tatsächlich geht Macht über Befehl, wie Tatsache über Meinung. Das Menetekel zeigt deutlich das Ende der Manipulation, scheidet das Falsche vom Echten selbst dann, wenn das Bemühen echte Formen annimmt.
So ist das vielleicht erstaunlichste Denkmal der Justiz das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA vom 12.12.2000(33), wo erhebliche Meinung die bedenkliche Tatsache schuf, daß die Vereinigten Staaten aufhörten, eine Demokratie, ja eine Republik, zu sein, indem, entgegen der ausdrücklichen Mehrheit des Volkes, derjenige zum Präsidenten erklärt wurde, der die meisten Stimmen, nicht der Wähler, sondern der obersten Bundesrichter schaffte, mit der offenbaren Begründung, daß seine Legitimität unanfechtbar aufgrund der Rekordhöhe der Wahlkampfspenden von 250 Mio $ war. Das war eine elegantere Form der Machtergreifung (plutokratische Usurpation) als dies bisher praktiziert wurde, ob es nun die beiden korsischen Banditen Napoleon oder die blutigen Anfänger Mussolini oder Hitler waren, die noch immer die primitiven Mittel bewaffneter Gewalt gehandhabt hatten. Es war auch eleganter als im alten Israel, wo die Richter die Macht selbst behielten. Im Y2K(34) spielten die Bundesrichter Kurfürsten und untergruben damit das Fundament, auf dem die Freiheitsstatue des New Yorker Hafens errichtet ist. Dieses Urteil setzte das Rechtssicherheitsventil der richterlichen Befangenheit außer Kraft, stellt den tatsächlichen Anführer der sog. freien Welt auf dieselbe Korruptionsebene wie die willkürlichsten Regime der Dritten Welt und verdeutlicht, daß hintergründige Dreistigkeit sich auszahlt, wenn sie den rechten Mann am rechten Platz hält, um die braven Leute zu überraschen und damit dem Gemeinwohl (the common weal) einen Sinn zu geben, der die üblichen Gestaltungskräfte der Gesellschaft, wie Vertrauen auf das gegebene Wort (pacta sunt servanda) guter Glaube und Respekt des andern, gegen höhere Richtwerte der neuen Weltordnung eintauscht. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie Meinung Tatsachen verhandelt, die keinen Zweifel lassen am Amtsmißbrauch, den niemand anzuprangern wagt, weil das wahnwitzige Imperium alle Macht gekauft hat, die ihm niemand mehr streitig machen kann. Noch geht es bedeckt vor und wahrt den Anschein der Rechtmäßigkeit, bis das offenbarte Maß voll ist. Eine weitere Innovation bestand darin, daß, im Gegensatz zur üblichen richterlichen Funktion, Unrecht sich nicht als Ausgangs- sondern als Endpunkt der Entscheidung befand, wenigstens nach bisherigem Maßstab.
Tatsächlich befassen sich Gerichte fast ausschließlich mit Unrecht, d.h. Verstoß gegen Gebote und Verbote. Unrecht ist nicht das Gegenteil von Recht. Es ist vielmehr dessen Begründung (raison d'être), dessen Rechtfertigung (justification), und deswegen ist das Hauptanliegen der Justiz keineswegs, Unrecht abzuschaffen - es entsteht, bevor sie sich damit befaßt -, sondern es einzuordnen unter ihre Obrigkeit in ähnlicher Weise wie die Kirche versucht, das Böse zu rechtfertigen, es einzugrenzen durch Verbote (6 bis 10 der Vorschriften des Dekalogs sind Verbote). Der Verstoß gegen die Vorschrift (Vor-schrift ist ja wiederum ein Text!) wird durch die richterliche Feststellung zur Tatsache (Zuwiderhandlung), die anhand der Vorschrift geprüft wird (Rechtslage) und dann geahndet wird im Richterspruch durch Verordnung der vorgesehenen Sanktion (Urteil). Während die richterliche Meinung das Urteil bildet, ist dessen Abfassung (fällen) ein Willensakt, durch den der gordische Knoten des Unrechts mittels der richterlichen Gewalt zerteilt wird. Die Teile werden erwogen, be- und verhandelt, gewichtet, nicht gesichtet, - daran hindert ja die justitiare Binde. Man kann nur leicht von schwer unterscheiden. So wird ein Ausgleich ausgewogen, eine Auflösung des Knotens ist nicht vorgesehen. Im Gegensatz zum Gesetzgeber, der gewisserart vorbeugend vorgeht, geht es dem Richter nie um Abschaffung dessen, was ja sein tägliches Brot darstellt. Aus Schaden wird man klüger als aus Gerichtsbescheiden, wenngleich sie diesen zu begrenzen suchen.
Die richterliche Gewalt ist auch anderer Art als die Alexanders, der die Verantwortung trug für seine jähzornige Gewalttat; erstere erfreut sich der Unbelangbarkeit, denn, wie der Politiker, handelt der Richter im Namen des Volkes, d.h. im Namen von niemandem. Alexander mußte daran glauben, wie erwähnt, nicht so der von Amts wegen Handelnde, der an garnichts mehr zu glauben braucht (la ï cité). Sein Amt sichert ihm weitgehende Freiheit vor Nachstellung und Bezichtigung. Ämter haben weite und lange offene Ärmel und oft unwillige Inhaber. Diese rangieren ihre Unbelangbarkeit unweit der Unfehlbarkeit, weil sie wissen, daß selbst ein Fehlurteil, auch wenn von höherer Instanz bemängelt und revidiert, nie persönliche Nachteile zur Folge haben wird, daß der Job bombensicher ist, und ihre Verantwortung, wie ihr Ruf, sich in der doppelten Anonymität des Amtes und des Volkes verliert, wie Fußstapfen im Wüstensand. Die Institution, weil, wie jede, seelenlos, ist keine Plattform für sorgsame Denkmalpflege.
Jedes Denkmal ist das Ergebnis eines Willensaktes; also ist auch jedes gefällte Urteil ein Denkmal. Kein Denkmal ist unfragwürdig; also ist auch kein Urteil unzweifelhaft, aber, auf erheblicher Meinung begründet, besteht es als Tatsache fort. So schafft das Recht tatsächliche Denkmale, die aber kein allgemeines Angebot darstellen, da sie in den meisten Fällen nur die betroffenen Parteien angehen, die aber, wie im dargestellten Fall politischer Wahl, nicht kleinlich definiert sein brauchen.
Das Negative (Unrecht) macht Geschichte, nicht ausschließlich, aber hauptsächlich, - was glatt geht, macht nicht von sich reden (c'était sans histoire!) -, wie ja die gesamte Menschheit von einem Brudermörder abstammen soll (alles Mordskerle!). So macht auch der Justizirrtum Geschichte und gewinnt Denkmalcharakter durch den Unmut, den das amtliche Unrecht des Einzelfalls in der Öffentlichkeit erregt. Solange keine andere Gewalt die amtliche Gewalt niederzwingt, ruft ein jeder: "Skandal !", aber jeder Skandal verdampft mit der Zeit. Es ist die Zeit, die das Recht über das Unrecht erhebt, wie es z.B. die Haftstrafen vertatsächlichen. Auf diese Art ist das Recht in der Lage, Widerspruch (Unrecht) zu regeln, indem es ihn mit seinen Folgen in seine Ordnung eingliedert. Das Leben mag voller Unrecht und Widersprüche sein, Recht haben kann nur eine Partei. Die andere ist zwar nach dem Urteil nicht im Unrecht, sondern einfach entrechtet (sie hat, nach Erschöpfung aller Rechtsmittel, nichts mehr zu sagen) und muß damit leben lernen. Das ist auch das Los jeder Minderheit in der sog. Demokratie, das sie anfällig macht für Vorschläge, die den demokratischen Tugenden zuwiderlaufen. Deswegen kann man auch der Korruption in jeder Demokratie ein Denkmal setzen im Sinn des Zitats von Tocqueville. Der usurpative Präzedenzfall vom 12.12.2000 hat der Korruption die Krone aufgesetzt, indem das Geld sich der Justiz bediente, um politische Rechtmäßigkeit vorzutäuschen. Hat damit wirklich die Stunde der offiziellen Demokratie geschlagen? Der Ausdruck politically correct ist ein neues Denkmal geworden für die Heuchelei, die im puritanischen Amerika schon immer die erste Tugend nach dem Dollar der Aaronskinder war. Dessen Kaufkraft wird die Grenze der Macht sein, die das Imperium sich verschafft zu haben glaubt. Solange Überzeugung Legitimität verleiht, besteht die Hoffnung, daß Aufklärung, wie seinerzeit gegenüber einer dominanten Kirche, zur Erkenntnis der wahren Macht führt. Ob Ideologie die Religion dabei ersetzen kann und was daraus wird, bleibt eine offene Frage.
Die Grenze zum Unrecht beschreitet das Recht beim Krieg, mit dessen Eintritt alle Vernunft aufgehoben ist, und das sog. Kriegsrecht ist nur noch dem Namen nach Recht. Gewalt ist eigentlich immer Unrecht, weil es die Willensfreiheit außer Kraft setzt, auf der jedes Recht beruht (s.o. Menschenrechte). Die Geschichte ist blutrünstig, wie die hohe Justiz. Der Galgen ist ein Denkmal (so der von Beerfelden im südlichen Odenwald), wie die unzähligen Kriegsgräber solche sind.
So wie Unrecht gibt es auch Undenkmale, z.B. die berüchtigten (les tristement célèbres) Atommeiler, von bösen Zungen "Kathedralen der Moderne" genannt. Die echten Kathedralen hielten das Böse in Gewalt, in Stein verwahrt, und in Abwehr nach außen, wie die Kragsteinskulpturen an den romanischen und die Wasserspeier an den gotischen Bauwerken es zur Genüge dartun. Die der Moderne hingegen sind Neuausgaben, Abbilder von Pandoras Büchse, deren pandemischen Kräfte Tschernobyl ausreichend demonstriert hat. Hier wird das Böse nicht gebannt, sondern gehegt und ausgebrütet. Deswegen sind sie unselige Denkmale für gröbste Dummheit und abscheulichste Unverfrorenheit, die ein gewissenloser homo faber in seiner fiesesten Gesinnung je bewerkstelligt hat, und bezeugen das dead end, die Sackgasse der Wissenschaft. In ihnen bewahrheitet sich Rabelais' Ausspruch: la science sans conscience n'est que ruine de l'âme = Wissen ohne Gewissen ist Seelenverderb. Was da an Unheil, d.h. Unheilbarem, für die Gegenwart und besonders die zukünftigen Generationen zusammen-gebraut wird, ist schier unvorstellbar.
3.2 Widerspruch und Abbild
Widersprüche und Paradoxa gedeihen auf dem Misthaufen der Gedankenfülle, die, ausgestreut als Meinungskult, sich zu Kultur schlechthin auswächst. Verkosten und Denken sind zweierlei, aber gehören zusammen, wie Freundschaft und Verrat, und dennoch besteht das Kostbare des einen im Ausschalten des andern. Tatsache oder Meinung? Fürchten, was man sieht (bzw. nicht sieht), oder fürchten, was man hört, das ist die Frage. The proof of the pudding is in the eating, meint wiederum der immer wieder pragmatische Brite. (dies ist keine Wiederholung, sondern eine recomposition = Neuzusammensetzung, wie beim Anagramm). Meinungen kann man bestreiten, wie seinen Lebensunterhalt, nicht so Tatsachen. Im Gegensatz zu Meinungen lassen sich Tatsachen beweisen, aber nicht kopieren, noch kolportieren, wohl aber Meinungen. Deswegen sind diese auch so anfällig für Plagiat und Streit, weil sie so einfach wiederholt und zerfetzt werden können.
Die Kopie als Abbild (z.B. der Roman als Spiegelbild der deutschen Kultur(35), die gesamte Musik-, Literaturgeschichte, -kritik, Epistemologie usw.) verführt den Betrachter immer zu persönlichen Einschätzungen und, in den meisten Fällen, zur Stellungnahme: wie verhält sich die Darstellung, die Aussage zu mir? Die Subjekt-Objekt-Beziehung sucht nach Ausgleich: die (Pol-Gegenpol-) Spannung der Betrachtung entlädt sich im Erguß der Eigenbehauptung, kritisch nach außen (Literaturpäpste, wie Jacobi u.a.), versöhnlich nach innen (I, the master mind). Das Abbild produziert in jedem Betrachter sein Trugbild der Eigensicht, wie es schon in der Klosterschreibstube geschah. In den wenigsten Fällen wird es als Trugbild erkannt, sondern gilt immer als authentisch für den Betrachter: sein speculum mundi, seine Einbildung.
Nach Verbindungen zu suchen zwischen den Welten der verschiedenen Betrachter ist illusorisch. Das Gleiche gilt a fortiori für interkulturelle Bemühungen in dieser Richtung. Jeder hat gerade genug mit sich selbst zu tun. Dennoch scheint die Illusion große Widerstandskräfte wachzurufen. Vielleicht gerade weil die Herausforderung des Dementi so groß ist, hat sie, die Illusion, eine so erstaunliche Abnehmerzahl. Der Spiegel vervielfältigt sich, wie in der deutschen Medienlandschaft, und provoziert stiefmütterliche Reaktionen: das Erkannte leugnen, aus dem Weg räumen, sich durchsetzen um jeden Preis. Die Selbstbespiegelung gelingt nur selten bis zur pyramidalen Selbsterkenntnis und dann meistens erst kurz vor Torschluß. Vermessen mag sich derjenige vorkommen, der sein Spiegel-Trug-Schattenbild mit dem Ebenbild vergleicht. Angesichts der erkannten Diskrepanz versteht sich der verzweifelte Versuch, die Übung immer auf günstigere Momente zu verschieben, indem man jeden Vorwand ergreift, durch den andern sich selbst aus dem Wege zu gehen, ja im andern sein Abbild zu verabscheuen(36) oder gefälligeren Dingen den Vorrang zu geben. Eilige Prioritäten sind willkommene Ausflüchte. Das Falsche daran erkennt man, wenn überhaupt, erst zu spät. Man glaubt zu schieben und wird geschoben.
Spiegelungen zeigen immer umgekehrte Abbilder. Der Betrachter spiegelt sich immer im Objekt seiner Betrachtung und beeinflußt diese dadurch quantisch, ohne die Umkehrung zu gewahren. Sein Weltbild mag von außen gesehen falsch sein, ihm ist es recht genug, so recht, daß er, falls deswegen belangt, es mit allen Mitteln zu verteidigen wüßte. Selbst wenn er um seinen Subjektivismus weiß, hält ihn dieses Wissen nicht davon ab, seinen Einfluß geltend zu machen und seine Betrachtung für sehr bedeutsam zu halten, so bedeutsam, daß er sie unbedingt andern mitteilen will. Die Mitteilungssucht ist gewaltig. Sie trachtet nach Verständnis, nach Sympathie und, wenn keine erwartet werden kann, nach Widerspruch. Die Spiegelung des Betrachters provoziert demnach weitere Spiegelungen beim Betrachter der Mitteilung usw. Schließlich bewegt die allgemeine Mitteilungssucht ganze Wälder zu Papierfabriken. Die gesamte Literatur entstand aus dieser Sucht und appelliert an die Geduld und den guten Glauben des Lesers. Eigentlich ist es keine Geduld, sondern Neugierde, die dem Leser sein Verhalten diktiert. Er nennt es Wissensdurst. Es ist wohl eher die Suche nach Selbstbestätigung im andern: daß es ihm ähnlich ergeht in seinen Ängsten und Wünschen. Der Schreiber verläßt sich auf diese Neugierde, um seinerseits Selbstbestätigung im Meinungskonsens der Leserschaft zu finden, im als Einverständnis gedeuteten Absatz seiner Meinung. Diese gegenseitige Selbstbestätigungssucht ist der eigentliche Beweggrund der besseren Literatur, die eine einzige verschleierte Klagemauer darstellt, mit Klagen über sich selbst in der Bespiegelung des andern, wenn auch Selbstbespiegelungen Anerkennung gefunden haben, wie die Verlagserfolge für Tagebücher, wie die von Amiel, Delacroix, Pepys, Dr. Johnson oder Rétif de la Bretonne bezeugen. Der andere wird auch dort genüßlich zerrissen, wie Shakespeare von Pepys. Diese Denkmalbespuckung zeigt seine feine Art. Unfehlbarkeit setzt sich nur als Dogma durch. Irrtümer merkt man erst, wenn überhaupt, zu spät und muß manchmal lange warten, bis man aus dem falschen Zug aussteigen kann. Dann fehlt auch noch die Verbindung und eine Wiederholung gibt es nicht. Unannehmlichkeiten dieser Art dienen zur Schulung, in der School of hard knocks, der Schule der harten Schläge.
3.3 Selbstbespiegelung
In der Malerei gilt das Selbstbildnis(37) als Weltverständnis (ich bin die Welt, aber ich kenne sie nicht) und Denkmalbeschwörung im gigantischen Ringen um Klarheit über seine Schatten (Selbsterkenntnis), laut der Aristotelischen Forderung, wonach die Kunst bezweckt, den verborgenen Sinn darzustellen, wenn sie nicht gar das Leben schafft, wie Henry James forderte. Das Selbstbildnis - Denkmal par excellence - zeigt jedenfalls, daß der Mensch keine Tatsache ist, daß die Catullsche Doppelnatur Zweifel fördert und bestärkt, und daß das Bein-Rätsel der Sphinx dem Ödipus ein Kinderspiel war gegenüber der abgründigen Herausforderung des Blicks, dem der Maler in seinem Forschungsobjekt begegnet. Die Doppelnatur erweist sich auch im Endeffekt: ein Denkmal wird errichtet, aus Eitelkeit, oder vernichtet, vom Sockel geworfen, aus Verzweiflung über sein Unvermögen, wider besseres Wissen sein Gewissen zu bereinigen. Götzenkult und Bildersturm. Die Bilderstürmer sind in der Mehrzahl und hinterlassen dennoch die bedeutsameren Denkmäler in ihrem Zerstörungsdrang. Die Subjekt-Objekt-Vereinnahmung vollzieht sich mit ähnlichem Aufwand wie die Kernfusion. Das Objekt ist zäh und widerstrebt, gleich dem Text, der Analyse, will von Einvernehmen mit dem Beschauer nichts wissen und liefert sich quecksilbrig als Rheingold. Und dennoch vermittelt das Resultat Aufschlüsse, weil die Spannung zwischen eins und zwei, zwischen Subjekt und Objekt, Richter und Angeklagtem, Herrscher und Beherrschtem im dritten, dem neuen Gegenstand, dem Bild, eine vorläufige(38) Auflösung findet. Aller Dinge sind drei(39). Die drei hebt die Dualität, den Widerspruch auf. These, Antithese, Synthese. Erbitterter Dialog mündet in die dritte Dimension, der des Verstehenwollens, des Gleichgewichts zwischen febriler Unruhe und heiterer Gelassenheit. Das Bild rückt aus der Zeit mit dem letzten Pinselstrich. Ein Denkmal aus einer gewissen Harmonie entsteht, das nicht unbedingt Aussöhnung beinhaltet, sondern eher Neubeginn nach Feststellung begangener Fehler. Deren Berichtigung ist nicht mehr möglich, soviel man dies auch wollte, aber sich deswegen ins Bild zu setzen und damit den Lernprozeß zu aktivieren, ist schon der Mühe wert.
Wie beim Schauspieler oder beim Autobiographen fordert das Bild, das man von sich macht, geradezu dazu auf, wie in der unwahrscheinlichen (Derrida) Autobiographie, Schwächen zu verdecken und Stärken zu betonen, aber wer sitzt schon dem Trugbild auf, außer der Maler selbst? Der jedoch weiß um die Gefahr und ist auf der Hut, denn, im Gegensatz zum dissimulierenden Text des Autobiographen - parler c'est mentir = jede Rede ist Trug -, verrät das Bild jeden Ansatz von Täuschung. Der Maler malt nicht sein Abbild, sondern sein Vorbild. Er ist immer versucht, so Zeugnis abzulegen von seiner äußeren Erscheinung, wie er sie dargestellt haben will, um seinem Abbild ein Höchstmaß an Gehalt und Glanz zu verleihen, wie es z.B. aus den Selbstbildnissen von Degas, Delacroix, Goya, van Gogh, Tizian hervorgeht. Hier spricht nicht nur ein vom Leben gezeichnetes Antlitz, sondern Verbindliches kommt zum Ausdruck über den Geist einer Epoche. Der Blick hat sich vom Nabel gelöst.
Ein solches Konzentrat von Aussage in der Darstellung weckt Staunen und Bewunderung, wenn man bedenkt, wie vielfältig und flüchtig die Mimik je nach Gemütslage eines Gesichtes sein kann (Messerschmidt), und der Maler den Ausdruck/Eindruck von vielen auswählt, der für ihn der einzig gültige zu sein hat, ohne auf das Lebendige zu verzichten. Aber auch die Wandelfähigkeit des Dargestellten über die Zeit verdient das besondere Augenmerk des Beobachters (Malers und Betrachters), wenn Monet, Sweerts, Tintoretto, Tizian mit zwei Lebensstationen aufwarten, das Altersbildnis als Kontrast und Vertiefung des früheren Eindrucks. Ingres hat 40 Jahre später (Chantilly) sein 1804 festgehaltenes Jugendbildnis übermalt, um ihm die Genialität, die dieses noch nicht auszudrücken vermochte, nachträglich zu bestätigen. Diese Denkmalskorrektur erhärtete ein Vorurteil, zupfte Vorschußlorbeeren zurecht und, genereller, nötigt sich auf als Signal, als Probe des zurückgelegten Wegs, als Abrechnung mit gehegten Hoffnungen, gewagten Erwartungen. Wie zerborstene Illusionen aussehen, zeigt im abgeschlagenen Haupt des Goliath das erschütternde Selbstbekenntnis Caravaggios, das die Worte Henri Michaux's darstellen könnte: Je crache sur ma vie, je m'en désolidarise = mein Leben kotzt mich an, ich will nichts damit zu tun haben(40).
Eitelkeit weicht Ehrlichkeit in den meisten Darstellungen, aber selbst dann, wenn der Maler sein Wunschbild äußert, wie Botticelli in der Anbetung der drei Könige, wirkt sein Traum umso derber nach dem Motto: chassez le naturel et il revient au galop = das Natürliche vertrieben, ist doch geblieben. Arroganz irritiert, auch wenn sie, wie Courbet, le grand peintre bête, in seiner Selbstdarstellung 1854 in Montpellier mit entwaffnender Naivität das blöde 19. Jht, le stupide XIXe siècle, illustriert.
Ein Denkmal kann immer nur aufrichtig sein, selbst dort, wo per naturam wie in der Selbstdarstellung, dem Darsteller alle Mittel zur Verfügung stehen, das Glück zu verbessern, de corriger la fortune, wie es Lessings Franzose in seinem Schauspiel Minna von Barnhelm formulierte.(41) Ein Selbstbildnis ist kein Suchbild nach versteckten Fehlern, bedeutsamen Winken oder verdeckten Fallen. Der Maler sucht nicht Ausflüchte in trügerischen Fluchtpunkten. Er weiß, daß der Gefoppte ihn anblicken würde, und das könnte er nicht ertragen. Falschspieler fehlen in der Porträtierkunst nicht, aber es sind immer die andern, die sich dazu hergeben. Er nimmt sich zu ernst, um sich etwas vorzumachen.
Den meisten Künstlern geht es wirklich um klaren Durchblick in der Darstellung, der meistens nicht auf Anhieb gelingt, wie die multiplen Selbstbildnisse von Gauguin, van Gogh und mehr noch von Cézanne, Liebermann, Corinth, Beckmann, und dem Größten aller Selbstdarsteller, Rembrandt, bezeugen. Das Zwiegespräch dieser Meister mit ihrem Spiegelbild im Verlauf ihrer Karriere sind Bekenntnisse ihrer Auseinandersetzung mit dem Leben schlechthin. Selbst Dürer, der eigentliche Erfinder der Paradeselbstdarstellung, hat eine frühe Zeichnung von sich - in Erlangen - hinterlassen, aus der der Jugend innere Unruhe und Ratlosigkeit (perplexité) schreit. Der Horcher an der Wand wird hier zum Erforscher seiner Hand, wie sie sich dem Willen sperrt oder fügt, den Augenblick zu fixieren und ewig Gültiges zu porträtieren anhand des erstbesten Modells, das ihm unter die Hand kommt, und das, als pars pro toto, das totum, das Ganze, Allgemeingültige darstellen soll. Es sei daran erinnert, daß réflechir nicht nur widerspiegeln, sondern auch nachdenken bedeutet. Dürers frühreife Nachdenklichkeit spürte das Ungeheuerliche auf, die Angst des Nichtwissens (l'affreux c'est de ne pas savoir), und meisterte sie im Ausdrücken in seiner Sprache: er setzte sich damit ins Bild.
Zeitgeschichtlich bedingt, emanzipiert sich das Individuum erst allmählich ab Mitte des 15. Jht. Sein Bewußtsein löst sich zögernd aus der Gebundenheit seiner Umstände, wie sie noch die Norm bei den Hütten der Kathedralen war. Wir nennen es Bescheidenheit aus unsrer Sicht, aber damals war es Selbstverständlichkeit. Selbst ein so unvergleichlicher Porträtist wie Giovanni Bellini hat kein Selbstbildnis auf die Nachwelt gebracht. Erst Dürer scheute sich nicht mehr, sein Antlitz unvermittelt zu zeigen, d.h. nicht verkappt als Statist im Bild, wie Masaccio oder Gozzoli, und seinem Narzißmus offen stattzugeben. Die Sucht, sich darzustellen, dem Eigenverständnis Allgemeingültigkeit zuzutrauen, hat Denkmäler geschaffen, die in der Sammlung der Uffizien in Florenz Einmaligkeit beanspruchen können.
Ein Denkmal ist kein einräumendes Selbstbekenntnis. Es hat Haltung zu zeigen und schließt in der Regel Gemütsanwandlungen aus, ja oft bedeutet ein abweisender Blick, ein verschlossener Gesichtsausdruck die Grenze der Annäherung und des Offenbarungswillens. Beispielgebend ist Poussins Selbstbildnis im Louvre, dessen Zeugnis den Kanon festlegt, wie weit die Neugier nach der Person des Künstlers gehen darf, ohne dessen Intimsphäre zu verletzen. Der abweisende Blick fesselt jeden, auch den vampirischsten Betrachter gerade durch das Schweigen, das seine Frage im Keim erfrieren läßt. Es dokumentiert für alle Zeit, daß des Werkes Geheimnis sich nicht aus der Person des Autors erschließen läßt. Es ist kein Trugbild, und dennoch trügt es naive Erwartungen. Insofern vermittelt ein Selbstbildnis meistens eine gesunde Ent-täuschung im besten Sinn des Wortes. Wenn mancher Mann wüsste ... Das Werk und der Werker sind die Dualität, die ihre Krönung im Dritten, dem Betrachter, findet, der sich sein eigenes Bild vom Maler machen muß, denn das vorgestellte Selbstbildnis ist nur der Anreiz dazu, wie jede Vorstellung, jedes Denkmal, das diesen Namen verdient.
Die Verbindungen, die in der Sucht entstehen (Trugbild- Betrachter bzw. Autor- Leser), sind konfliktgeladen. Die gesamte Literatur-Biographieszene zeugt davon. Dem maskenbildenden Autor wird die Maske abgerissen. Die Persona wird durchschaut, das Schauderhafte der Person offengelegt vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer. Man läßt ihr nur die Stimme (une voix sans personne) als Klangalibi für den Rezitanten. Verunglimpfung gilt als Verwissenschaftlichung, wie Freuds "Diagnose" von Leonardos angeblicher Unsitte. Das Aas kann sich nicht wehren. Klare Spiegel lassen keinen Schatten zu; nur Schlemihls Doppelgänger (E.T.A. Hoffmann und A. v. Chamisso) merken den Makel. So rächt sich der Biograph beim Gewahren seiner selbst im andern durch seine zersetzende Auseinandersetzung. Tiefenpsychologische Studien der Biographie ergäben brillante Spiegelfechtereien. Berühmte Biographen gäben ihrerseits zu Biobiographien Anlaß. Damit gäbe es eine weitere Abart der Historiographie, der Rückspiegelung von Geschichte, die sich auffächert im Plural der Literatur, eine alte Geschichte. Es gibt im Musée Condé von Chantilly ein Gemälde aus dem 15. Jht. "Le miroir historial de Vincent de Beauvais", das den Traum des Hl.Johannes von Damaskus darstellt, dessen Quelle der Erkenntnis grundlegend für das Verständnis des mittelalterlichen Denkens ist.
Vor allem das Theater und die Romanliteratur belegen das Doppelspiel des Werbens um Verständnis (des Autors Beweggründe, Welterklärung, kurzum der Allgemeingültigkeit seiner Beobachtungen) und Entschuldigung (Dostojewski). Schon eine ganze Menge dieser literarischen Bemühungen sind zu Denkmälern geworden. Es gelingt nur denjenigen, die den Erwartungen der meisten Leser und Kritiker auf die kunstvollste Art Rechnung tragen.(42) Geistige Denkmäler, mehr noch als materielle, sind Clanbildner, rufen andere Denkmäler hervor, provozieren schier endlose Reaktionen, wenn sie nur heftig genug schockiert haben. Das ist ja die Aufgabe besonders des geistigen Denkmals: zum Nach-Denken anzuregen, Stein des Anstoßes zu sein, der, in den tiefgründigen Teich des Konformismus geworfen, desto weitere Kreise zieht, je gröber, schockierender er auf die Oberfläche trifft. Triftige Gründe für sein Tun findet der Autor in seiner Sicht des Mangels an Verständnis seiner Umgebung. Sein Werk bewirkt vermittels Irritation weitere Denkmäler. Der Ablauf Vorbild, Abbild, Trugbild ist ein heilender Prozeß, in dem jedes nachfolgende Stadium einen Rang aufrückt, dadurch seine Statusmängel ablegt und seinerseits erneut (Wiederholung!) das Ablaufschema in Bewegung setzt (Schneeballeffekt). So entsteht eine lange Reihe von Abbildern, die zu kulturprägenden Vorbildern für die Nachfolger werden. Wie leicht erkennt man die Zusammenhänge des Geschehenen. Nun obliegt es den Nachfolgern zu sehen, wie sie mit dem Vorbild und ihrem Trugbild zurechtkommen. Dazu kommt noch, daß das übliche rationale Denken jeder Dynamik abhold ist, sich deswegen an feste Kategorien klammert und dadurch nicht erkennen kann, wie wichtig die Übergänge sind, vom Vorbild zum Abbild, und wie groß die Gefahr ist, daß das Bild im Abbild zerstört wird (C. J. Burckhardt). Nur, der Beschauer vermag, durch seine Sicht der Gefahr zu begegnen, denn seine Sicht ist unzerstörbar.
3.4 Wiederholung und Abbild
Wiederholung und Kopie sind maßgebend für das heute waltende Massengesetz in Produktion und Verbrauch. Warhol hat versucht, aus dieser Idee Kapital zu schlagen. Das ist ihm gelungen. Das war keine Kunst. Diese verwehrt sich der Absicht, wie auch der Text sich gegen die Absicht des Autors sperrt (J. Derrida), indem die Autonomie der Aussage den Vortragenden verrät. Der Sinn drängt sich auf und wandelt sich nach Maßgabe des Hörers/Lesers. Die Produktion wird Reproduktion, wie beim Wiederholungsbegriff gezeigt wurde. Die Sinneswandlung erfaßt den Leser und fordert ihn auf, sich darin selbst einzubringen, für sich die Wandlung zu wiederholen, den Weg zu erkennen, auf dem es zu wandeln gilt.
Andererseits findet man Wiederholung als Notwendigkeit zur Schaffung kultureller Werte mit Denkmalcharakter in allen Werken, bei denen Abläufe konstitutiv sind, wie in der Musik oder im Film. Was da an die Wand geworfen wird, ist nie eine Einmaligkeit, wie der Froschkönig, sondern wiederholbare transparente Bildschattenfolgen, die auch im Gegenuhrzeigersinn noch sinnvoll sind. Das Gegenstromprinzip findet dagegen bei der Musik keine Anwendung. Diese unterliegt dem ebenfalls wiederholbaren Einbahn-Ablaufzwang, weil das Gehör sequentiell arbeitet, im Gegensatz zum Auge, das global wahrnimmt. Daher der essentielle Unterschied zwischen Malerei, bildender Kunst und Musik. Erst Guido von Arezzo vermochte in der westlichen Kultur mit seiner Notenschrift der Musik ihren Denkmalcharakter zu geben. Aber das Gleiche gilt für den Text. Das Auge muß sich dem sequentiellen Zwang des Lautes beugen.
Text und Musik sind siamesische Zwillinge. Die Musen Euterpe und Erato bezeugen diesen Zusammenhang und das feine Verständnis der Griechen dafür. Die Musik spricht das Gemüt an und kann deswegen Anspruch erheben, die verbindendste der Künste in allen Kulturen zu sein. Wo man singt ... gilt überall. Außerdem ist das Besondere bei der Musik, daß sie Selbstaufgabe fordert. Selbstdarstellung, wie auf der Bühne, in der Galerie oder im Text, ist nicht möglich. Die vorgegebene Melodie verlangt die Unterordnung der Ausführenden, eines jeden nach seiner Rolle, seiner Partitur (Orchester). Die persona läßt nur den Ton gelten. Selbst der Dirigent (chef) muß sich an die Werkvorgabe halten. Musik ist Dienst am Monument, am Werk. L'improvisation est improbable. Improvisieren hält der Prüfung (der Zeit) nicht stand. Allerdings gilt allgemeiner, daß wahre Kunst durch ihre natürliche Leichtigkeit besticht, daß sie anscheinend wie improvisiert (Goethe) entstand. Meisterschaft belächelt Mühe.
Jede musikalische Darbietung, jede Lesung, jede Aufführung ist eine Neuschöpfung (recomposition) und keine Kopie, obwohl das Ausgangsmuster, die Vorlage erkennbar respektiert werden muß. Aber die Vorlage wird interpretiert. Die Deutung spiegelt die Ansicht des Deuters, dessen mustergültige Werktreue wiederum denkmalfördernd ist. Das gilt für Musik, das gilt für Text. Kein Text kann sich der Deutung entwinden, denn jeder Text dient der Wahrheit, wenngleich er sie zu verbergen sucht und Irrtümern das Wort redet. Jeder Text ist Bindung einer wohlmeinenden oder üblen Absicht, Festlegung neuer Bedeutungen von Wörtern, die einem nicht gehören, die aber durch den Zusammenhang der zitierten Begriffe ein Gebäude schaffen, in dem es sich leben läßt und der Versammlungsort wird für weitere Initiatoren, die ihrerseits neue Sprachräume schaffen.
Wie der Raum mit seinen Dimensionen seine Gesetze diktiert, denen man sich nicht entwinden kann, zwingt die Sprache dazu, die Sinntradition und Bildung ihrer Wörter, die Normen ihrer Struktur (Grammatik) zu beachten, wenn Verständnis gesucht wird. Trotz dieser (auch Offenbarungs-)Zwänge, denen der Sprecher sich unterwerfen muß (Angabe der Handlungsziele mit Subjekt und Objekt, genus, Zeit- und Wahrscheinlichkeitsmodi), gestattet die Sprache genügend Freiraum (Raum und Feld "erden" die Sprache), um der Bedenklichkeit unbedenklichen Ausdruck zu verschaffen und damit Meinungen Gestalt zu geben, die Anspruch auf Monumentalität erheben können.
So erben sich Ansichten fort, ragen heraus aus dem Bau des Denkmals einer Sprache, eines Kulturraums, finden Widerhall in anderen Kulturräumen. So entsteht ein Netz, das vielen Zwecken dienen kann. Die Episode von Vulkan bezeugt (s.o.), daß Absicht mit Vorsicht gepaart sein sollte, denn selbst offensichtliche Schuld, entstanden aus Unrecht, verstrickt nicht immer genug, um ein sicheres Urteil zu erwarten. Andererseits ist Widerspruch nur ein Zeichen von Gleichzeitigkeit, und Zwiespältigkeit ist konsequentes Sein. Mars und Venus waren zwiespältige Götter und lachten, wie der Rest, dem üblichen, von der Angst diktierten, engmaschigen Konsensnetz der Beherrschten. Schadenfreude verhalf ihrer Leidenschaft nicht nur zu mildernden Umständen, sondern verurteilte dazu noch den Hahnrei, le cocu mécontent, zur Lächerlichkeit. Le ridicule tue, comme le tort = Spott ist fatal wie Unrecht.
Denkmäler bezeugen den Konsens/Dissens der Benutzer mit der Auffassung, dem Weltverständnis der Urheber. Die Affirmation, die von diesen ausgeht und sich in der Wiederholung der Benutzer spiegelt, regelt die Beziehung der Vergangenheit (Werk/Text) zur Gegenwart (Rezeption) im Zeichen der Anteilnahme, der Emotion, die gleich lebendig ist. Die Affirmation des hic et nunc und die Herausforderung, nach Sinn und Wahn zu unterscheiden, zeigt das steinerne Bildnis des Commendatore in Tirso de Molinas Steinernem Gast. Das Verbindende dieses Denkmals, wie bezeugt z.B. durch die Abbilder von Zorilla,, Molière, Mozart u.a., steht für die Menge all derer, die dem Leser durch den Kopf gehen mögen, wenn er im Bilde ist.
Im Denkmal liegt ein Appell an die Gemeinsamkeit, die Sinngemeinschaft, die Zusammengehörigkeit seiner Benutzer. Das Denkmal ist Brennpunkt der Auseinandersetzung und zugleich Versammlungs- und Knotenpunkt im Verkehr der Leute unter sich und der Kulturen untereinander. Es ist Spiegelstein und Sammelort von Erwartungen. Geduldig wartet es auf jeden. Wartet auf mit Denkwürdigkeit, deren Hintergründigkeit nur der erahnt, der bereit ist, sein Vorurteil in Frage zu stellen (jedes Urteil gründet auf einem Vorurteil als dessen Bestätigung oder Berichtigung). Dann kann er die tröstliche Gewißheit auf- und mitnehmen, daß die vorgefundene Botschaft zeitlos ihm gilt, und sein Sorgen nicht vergeblich war, da es geteilt wird mit all denen, die gleichen Sinnes sind, was das immer für den einzelnen bedeuten mag.
Das Denkmal an sich spielt bei der Übung sicher eine wichtige Rolle, aber vielleicht noch wichtiger sind, wie gezeigt, die Verbindungslinien, die Zusammenhänge, die von einem zum andern führen und ein Muster bilden, eben den gesuchten Text, den Weg. Zusammenhänge erkennen bedeutet durchblicken: das Netz sehen lernen, das die geistigen und materiellen Welten verbindet in Entsprechungen, die das ungeübte Auge nicht wahrnehmen kann und dort höchstens nur trübe Schemen erblickt, wo das Resonanzprinzip auch andere Sinne anspricht, mit denen das harmonische Walten von Kräften erkannt und ausgedrückt werden kann, wie im Vorbild der pythagoreischen Sphärenmusik. Diese Erkenntnis wird begangen durch Taten und Fehler, die ebensoviele Denk-male darstellen auf dem Weg des einzelnen. Die Summe der Erlebnisse solcher Art verbindet eine Gemeinschaft, schafft eine Kultur.
Wege verbinden Gefährten, wie Denkmäler menschliche Erfahrung. Heureux qui, comme Ulysse, a fait un bon voyage ... - glücklich derjenige, der, wie Odysseus, eine gute Reise hinter sich hat (s.o.), denn dann hat er auch die Reue abgelegt, etwas verpaßt zu haben. Die Denkmäler, die einem über den Weg laufen, und nur die, haben eine Bedeutung für den, der seinen Weg geht, seine Blickwinkel einstellt und wechselt und auch die Lichtverhältnisse beachtet. Sie sind seine Wegzeichen - kennt er sie schon alle? Andere braucht er nicht für seinen Garten, sein Blickfeld, seine Sichtweite, denn des echten Denkmals Kraft ist reaktiv, indem sie das Verborgene in einer Seele zur Offenbarung reizt und durch Spiegelung erhellt (l'art renvoie chacun à sa propre singularité). Wenn das Schauen keinen Widerhall findet, ist das Zeichen für den Betrachter nichtssagend, leer, weil er angefüllt ist mit Erwartungen, die das Objekt nicht erfüllen kann. Er reitet auf dem Wellenkamm, während im Tal (le creux de la vague, le creux du divan du psy = dem Wellental, der Vertiefung der Analyse) Dunkelheit herrscht. Schwingung ist des Lebens kontrastreicher Ausdruck. Zwischen den Polen, zwischen Hoch und Tief fließt der Strom im Betätigungsfeld der Neugier.
Fülle und Leere bestimmen die Richtung der Kraft. La Nature a horreur du vide = die Natur haßt Leere. Das bestimmt die Richtung, wenn die Leere mit Neugier gepaart und nicht gähnender Lebensinhalt ist. Die Höhle war wohl das erste Denkmal überhaupt. Nicht jeder fühlt sich darin heimisch, aber jeder sucht sein Gleichgewicht zwischen Bedarf und Angebot. Deswegen sind nicht alle Zeichen für ihn. Die Gedenksteine, die er sammelt, füllen seine Leere, beleben sein Gedächtnis und bezeichnen seinen Weg, nicht vorwärts, sondern zurück. Er kennt sie in- und auswendig: par coeur, wie es so treffend der Franzose formuliert. Sie entspringen und entsprechen seiner Liebe, de ce que l'on aime. Ohne Erinnerung an den Garten, aus dem man gehoben wurde, ohne Gedächtnis ist man leer, wehrlos ausgeliefert der Dummheit, sprachlos gegenüber der Tollheit, der Barbarei der Welt. Besitz der Sprache ist Besitz der ihr und ihm eigenen Begriffe und nur dieser. Damit hat er ein Machtpotential, das innerhalb der Diktatur der Sprache (R. Barthes) ihm erlaubt, sich seinen Bereich zu sichern, sein Wissen, kurzum, seinen Garten zu kultivieren und daraufhin verfügbar zu werden für den andern und ihm helfen, seine Erwartungen auszuloten, seine Wahrzeichen, Denkmäler zu finden, wenn ihm danach verlangt. Ohne ein solches Verlangen ist jedes Bemühen vergeblich, denn es bedarf einer großen Energie, anders zu denken, sich zu leeren, um der Fülle teilhaben zu können.
Andere Denkmäler gelten für andere Gärten. Das kann man getrost auf sich beruhen lassen. Suum cuique - jedem das Seine. Das ist das Gleichheitsprinzip, das alle Kulturen verbindet unter dem Billigkeitsdenkmal der Toleranz. Wie überholt wirkt jedoch dieses Denkmal angesichts des formatierten Individuums, dem gar nicht mehr nach Vogelfreiheit zumute ist! Belastet von der Nichtigkeit seiner Existenz, - Fortschritt ist ihm bestenfalls sozialer Aufstieg bzw. bedachtes Aussteigen aus der Banalität seiner Gedankenlosigkeit - folgt es brav den vorgeschriebenen, aussichtslosen Pisten. Kein Wunder, daß die Titanic in der Wiederholung einen solchen Denkmalserfolg hat!
Es ist bezeichnend, daß die Vogelfreiheit vor der Freiheit im Schwange war und daß erstere zwar jetzt nicht mehr viel von sich reden macht, aber doch insgeheim die Tendenz besteht, die platonische Idee der Freiheit dahin verstanden zu wissen, daß letztlich ihre ursprüngliche Vogelnatur wieder zum Tragen kommt. Denn erstens ist es bekannt, daß Leichtigkeit und auch Fröhlichkeit mit Gedankenlosigkeit verbunden sind (tête de linotte = Spatzenhirn), weil ja Gedanken zu Tiefsinn neigen, und Bedachtsamkeit jedem Frohsinn zuwiderläuft; zweitens weiß man aus Erfahrung, daß es aufgrund dieser sympathischen Ahnungslosigkeit mit Netz und Spiegel ein Leichtes ist, der ungehemmten Lebensfreude dieser Luftikusse ein schnelles und wirksames Ende zu bereiten. Heinrich der Vogler kann ein Lied davon singen. So sieht es aus, als ob nicht nur der Steuerzahler, der Verkehrsteil- und Arbeitnehmer, sondern sogar der einfache Bürger im Rahmen der neuen Menschenrechte für vogelfrei erklärt und, wenn nicht alles trügt, dadurch denk-mal-pflichtig gemacht wird, womit die Überlebenschancen dieses betriebsamen, flatternden Völkchens schwindend gering werden. Es wird sich dann zeigen, wie lange die erklärenden Gewalten noch die Stange halten können.
Es gibt dennoch Denkmäler, Zeichen, die nicht trügen. Ein jeder muß es auf sich nehmen, von deren Angebot den rechten Gebrauch zu machen, bis er selbst soweit ist, wie Friedrich Rückert, nichts mehr zu brauchen:
Das ist Wiederholung des Goetheschen "doch wenn ein Mann von allen Lebensproben/ die sauerste besteht, sich selbst bezwingt,/dann kann man ihn mit Freuden andern zeigen/ und sagen: Das ist er, das ist sein eigen!"(43), aber auch Wiederholung der bereits angedeuteten Denkmalsbegründung durch den auf das Wesentliche beschränkten Meister, ob er nun notgedrungen (die Heimkehr des auf langen Irrfahrten gebeutelten Odysseus) oder freiwillig (Hans im Glück oder der im Abendlicht auf dem Wasserbüffel zurückkehrende Buddha) auf alle Begierde verzichtet hat. Weltabkehr war schon immer der Trostwirkstoff des Opiums der Völker und das Leitmotiv der sogenannten Realisten (als Widersacher der Nominalisten), denn das Dich lebt an der Weltgrenze, die Geist und Materie scheidet bzw. verbindet. Auf dem Zaun ist schlecht leben (sitting on the fence); leichter geht es auf der Brücke oder dem Kahn, die über dem Spiegelbild der Metamorphose schweben. Wasser zeigt auch einen Weg, den des geringsten Widerstandes in der Demut. In dieser Erkenntnis darf man sich entscheiden zwischen Angebotenem an beiden Ufern. Das wahre Leben erfüllt sich in Geist und Materie, in der Dualität, im Schatten des Zweifels, im Ringen um mehr Licht, um Ein-Sicht. Wer am Glauben verzweifelt, bedarf keiner Inquisition, sondern einer unermeßlichen Nachsicht, denn die Wahrheit kennt keine Beleidigung und verabscheut Gewalt. Und wer sich den Luxus des Zweifels erlauben zu können glaubt, hat im Würfelspiel mit dem Zufall schon verloren. Jedes ehrwürdige Denkmal hat eine Reizschwelle (en toute oeuvre vénérée, il y a lèse-majesté [Alain]), die, dem Resonanzprinzip zufolge, auch im Benutzer wirkt und seine Ansprechbarkeit ausschlaggebend beeinflußt. Das Wissen darum wäre ihm ein wichtiger Fingerzeig in seiner Stellungnahme: was spiegelt sich ihm vor?
Rückerts Vermächtnis zeigt nur die erste Stufe zur Selbsterkenntnis, nämlich die Selbstgewinnung im Ansatz von Occams Rasiermesser (weg mit allem Unnötigen). Dabei muß man aber auch dem Eigendünkel entsagen; sonst endet das Vorhaben im Faß des Diogenes, der vorgab, am hellen Tag auf der Agora mit seinem Licht einen Menschen zu suchen, und deswegen keinen finden konnte. Später setzte man ein Denkmal den Rittern ohne Furcht und Tadel, Quijote oder Bayard, die dem Eigenwahn verschrieben waren, sich selbst aufs Spiel setzten und dabei den Durchblick verloren. Wahnwitz ist keine Tugend. Und beanspruchte Tugend versperrt die Klarsicht und verdeckt die Schatten.
Die zweite Stufe liegt in der rechten Einstufung des Ichs anhand seiner Umstände (vorliegende Tatbestände im Licht der geforderten und für sich anerkannten Verhaltensregeln). Hier muß auch die Selbstgerechtigkeit verabschiedet werden. Verdruß, Reue und Tränen gelten nichts mehr. Die Schuldfrage stellt sich und fordert die Verantwortlichkeit heraus. Es geht nicht mehr um Lob oder Tadel, sondern um Vergebung. Das ist mehr als Toleranz. Sich selbst vergeben und damit sich öffnen für die Verletzung. Es werden ja nicht nur Regeln verletzt. Schmerzensgeld ersetzt kein Leiden. Die Zeit bringt Lösung nur, wenn Geduld die Toleranz unterstützt.
So ist die Selbsterkenntnis auf dem rechten Weg, wenn sie die Vergebung des erlittenen Unrechts und seiner Folgen bewerkstelligt. Dann bedarf es auch keiner Pyramiden mehr. Dann kannst du selbst auch wieder kommen, indem du, mit dir ausgesöhnt als Täter und Opfer, getrost der Sonne, und was sie an den Tag bringt, entgegenblicken kannst. Vom Aufgang leuchtet schon die Venus, aber der Mars bleibt unsichtbar.
Aus der Mitte seiner Gewißheit kann sich der Meister jetzt den andern zuwenden als Spiegel und Erwartung seiner selbst. Er ist frei, zu geben, was er hat. Kredit wird nicht gewährt. Glaubenswürdigkeit muß er sich erwerben durch sein Tun. Doch seine Marksteine, wie die Sprache, gehören ihm nicht (Besitz ist nicht Eigentum), nur ihr Verständnis und was er daraus macht und die Freude daran. Das alles kann er teilen und dem andern helfen, wenn der es zuläßt, zu verstehen, woran es ihm fehlt an Einsicht, an Selbstverständnis, an Öffnung und Freude, und damit mehr Licht zu bringen in seinen Garten. Rechte Hilfe bleibt diskret, wie Denkmäler, die ja warten, bis der Faden eingespult ist.
Das Wesentliche ist die Begegnung, in welcher Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen in der Erkenntnis ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Beteiligten. Auch diese Bedeutung ent-wickelt sich im Lauf der Zeit in der Reflektion des bleibenden Eindrucks der Begegnung. Selbst wenn sie kurz war, ist ihre Wirkung dauerhaft (kleine Ursache, große Wirkung). Nur in diesem Sinn kann von nachhaltiger Entwicklung die Rede sein. Denkmäler kommen nicht ins Haus, wie durch die Medien ( the medium is not the message); man muß sich insgeheim auf den Weg machen und, ohne die Kulturgeier zu bemühen (denn sie lauern auch dir auf), verwesende Kulturreste aufsuchen, damit ihre Ansicht neue Aussichten eröffnet und Einblicke gestattet in den Ursprung. Nur in der Rücksichtnahme auf seine eigene Rückständigkeit und in der Erkenntnis seiner Leere (Ohnmacht) kann Erfüllung werden. Das Denkmal der Verkündigung, das in tausendfacher Ausführung die großen Museen schmückt, bedeutet, genau dies: wie das Göttliche in die Seele dringen kann, wenn sie sich anrühren läßt in der Selbsterkenntnis ihrer Bedürftigkeit und demütigen Bereitschaft zu dienen.
© Herbert Eisele (Paris)
ANMERKUNGEN
(1) Am 3.11.03 wurde vom General-Direktor und dem Präsidenten der Generalkonferenz der UNESCO der Vertragstext über den Schutz des geistigen Eigentums (la sauvegarde du patrimoine immatériel) unterzeichnet. Mit dieser Erweiterung des Netzes wird eine neue Stufe der Erfassung eingeleitet, die auch die Denkmäler, die dem Urheberrecht entstammen, d.h. die Denkwürdigkeiten, eingliedert.
(2) S. auch M. Cattaneo + J.Trifoni, Die Kulturmonumente des Unesco Weltkulturerbes und Die Naturreservate idem. Arkady Vg. Warschau 2001, 432 u. 400 SS., neben der offiziellen, von der UNESCO veröffentlichten bebilderten Liste.
(3) H.H. v. Arnim, Das System, Droemer 2001
(4) Bereits Voltaire warnte vor ähnlichen Auswirkungen, z.B. der Zuckerschuld: Bei der Arbeit in der Zuckerfabrik, wenn die Rohrpresse unseren Finger erwischt, schneidet man uns die Hand ab, und wollten wir zu entkommen suchen, wird uns das Bein abgehackt... Das ist der Preis, den wir zahlen, damit ihr Zucker in Europa habt. Candide, chap.19: Quand nous travaillons aux sucreries, & que la meule nous attrape le doigt, on nous coupe la main: quand nous voulons nous enfuir, on nous coupe la jambe ...C'est à ce prix que vous mangez du sucre en Europe.
(5) Und zu deinem ew'gen Unbehagen/Stößt dich heute, was dich gestern zog./Kannst du zu der Welt nur Neigung tragen,/die so oft dich trog. Goethe, An Lottchen.
(6) Optimistischer formulierte Nestroy: Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.
(7) In der Ausführung erinnert die Statue an die der Pallas Athene auf (ursprünglich in) der Akropolis mit dem transzendenten Unterschied, daß letztere aus Jupiters Schenkeln stammte und Besseres zu tun wußte als der Lüge zu dienen.
(8) Randall Rothberg, Where the Suckers Moon, N.Y.,1995, S.137.
(9) Gaston Bachelard: Ce n'est pas en pleine lumière, c'est au bord de l'ombre que le rayon, en se diffractant, nous confie ses secrets=Nicht im grellen Licht, sondern am Rand des Schattens vertraut uns der Strahl in seiner Streuung sein Geheimnis an..
(10) Diese Verbindung durch den Text gilt nur oberflächlich, denn während die Bibel (AT + NT) Gesetz und Geschichte vereint, wie sie auch anderweitig belegt sind, ist der Koran mitnichten ein Geschichtsbuch.
(11) Und welch ein Denkmal hat er sich mit seiner Behauptung geschaffen! 1 Kor 13:.. hätte aber die Liebe nicht ... dieses sog. Hohelied der Liebe ist kein Beweis dafür, daß er das lebte, wovon er redet. Im Gegenteil, je mehr von etwas geredet wird, desto argwöhnischer hört man sich das Gerede an. Im Zweifelsfall für den Redner.
(12) Und wirkt fort z.B. in den hängenden Gärten eines Stefan George.
(13) Die Kraft der Stolpersteine kommt z.B. bei den 7 Zwergen zum Tragen, als sie vermöge ihres Anstoßens den rettenden Ruck bewirkten, der das vergiftete Apfelstück mit Schluckauf aus Schneewittchens Gurgel beförderte.
(14) Massaker der französischen Protestanten in der Nacht vom 23.-24.8.1572.
(15) Das geläufige Gegenteil von cool ist wohl öde im Sprachgebrauch der Springinsfeld, aber es gibt auch "schändlich" bzw. "abscheulich", als verwerfliches Gegenstück.
(16) Der Zufall hat wieder gewirkt. Clovis hat mit dem Merowingerfürsten, mit dem durch seine Taufe die röm.-kath. Kirche die offizielle Religion im Frankenreich wurde, außer dem Namen nichts gemein. Es ist hier der Ort in Neu-Mexiko, wo der Stein bei einem Mammutskelett gefunden und auf 11.500 v.Chr. datiert wurde.
(17) Petrus war nie in Rom und konnte deswegen auch nicht der 1. römische Bischof und Begründer der alleinseligmachenden römischen Kirche sein. Der "heilige Stuhl" beruht also, wie die gesamte neodarwinistische Menschheit, auf einem missing link. Die machtwahnsinnigen Seilschaften, die die Nachfolge Petri beanspruchen, halten sich schnöde bedeckt. Das arme Opfer, das man derzeit für den Titelinhaber ausgibt, ist eine Geisel in ihren Klauen. Kein Wunder, daß die ständige Praxis der Kirche eine fortlaufende Bestätigung von Tocquevilles zitiertem Aphorismus darstellt!
(18) Weil diese eh von Manipulatoren geschrieben wird.
(19) T.Bayes, An essay towards solving a problem in the doctrine of chances, in Bd 53-54 der Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 1763-4.
(20) Louis Charpentier, Laffont; Paris; 1966, S.34
(21) Unter Papst Gregor IX. mußte 1231 ein Sonderausschuß über die Zulässigkeit angesichts des kirchlichen Kanons der aristotelischen Forderungen befinden, nach der Wahrheit in der Natur zu forschen. Die Befürwortung stieß auf den Widerstand der Priester, wie noch lange Zeit ersichtlich an der Verurteilung von Galileo, Bruno etc., aber gleichzeitig entstand die unterirdische Fraktion, die auch heute noch die katholische Kirche beherrscht, trotz Spaltung. Einige Kircheninsider versuchten, Glauben mit Wissen zu vereinbaren, wie Albertus Magnus, Eckehardt, Suso, Tauler, Teilhard de Chardin, etc., aber sie drangen nicht durch. Selbst wissenschaftliche Außenseiter, wie Planck und Heisenberg, müssen warten, bis neue Ufer tatsächlich gefunden sind.
(22) Klonierte Zellen sollen in Krebs ausarten, wie es ja die Vervielfältigung des Ego nicht anders erwarten läßt, denn Krebszellen sind nur wildgewordene Selbstverdoppler.
(23) Manche Menschen würden eher sterben als nachdenken. Und sie tun es auch. B. Russell
(24) Angenehme Worte sind nicht wahr, wahre Worte sind nicht angenehm. Laotse
(25) International Thermonuclear Experimental Reactor, ein Riesenprojekt, das von der Europäischen Union finanziert wird und bezweckt, Kernfusion technisch in die Wege zu leiten; basierend auf der Einstein-Maxwellschen Vorstellung, wonach die Sonnenenergie aus Kernfusion stammte. Diese Vorstellung ist, wenn man so sagen kann, völlig aus der Luft gegriffen; entbehrt also jeder seriösen Basis. Im Gegenteil, es ist wissenschaftlich erwiesen, daß diese Vorstellung falsch ist (Martin). Dessen ungeachtet ist diese Vorstellung inzwischen zum Dogma erhoben worden, weil wiederum der Zufall die maßgeblichen Kreise dahinter versammelt hat, und die Industrie sich große Gewinne von dem Vorhaben verspricht. Umdenken erfordert Gewalt. Aus Solarenergie gewonnener Wasserstoff wäre die bessere, weil billigere und umweltfreundlichere, Lösung, aber dazu will man die erworbenen Pfründe nicht aufgeben. Dummheit ist kurzsichtig und hat auch keine langen Beine, wohl aber die Zähigkeit einer vertrockneten Rutschmine.
(26) Reflektionsstrahlkraft
(27) Besonders die kirchliche Lehrmeinung läuft leer in der Nichtbeachtung der Regel durch die Regelsetzer. Vorbild sein, ist die Ausnahme, Vorurteil die Regel.
(28) Dann können selbst Behauptungen, wie die, daß die "Pyramiden von Gizeh als Landebaken für einen Raumflughafen auf der Sinai Halbinsel dienten - was die Ansicht widerlegt, die Pyramiden wären von menschlichen Pharaonen erbaut worden" nur noch ein mildes Lächeln hervorzaubern als Bestätigung dessen, daß eine Ansicht die andere zu widerlegen vorgibt und der Meinungsstreit noch lange nicht zuende ist.
(29) Man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht nur von einzelnen, sondern von der Masse. Goethe
(30) Das gilt auch für das Zivilrecht, denn der Verurteilte kommt zwar in keine Strafanstalt, muß aber mit seinem Vermögen herhalten. Er wird für seinen Gehorsam bestraft, sein Recht nicht selbst gesucht zu haben.
(31) Nach neusten Erkenntnissen fliegen Brieftauben entlang der eingefahrenen Verkehrswege!
(32) US nationaler Flintenverein, der als einflußreiche Lobby neben der Rüstungsindustrie u.a. hinter Bushs Politik der harten Schritte im Wüstensand steht.
(33) Cf Dialog von Mark H. Levine in: Das Bush Imperium, Atlantik Vg. Bremen, 2002, S. 405-415.
(34) Year twothausand =2000.
(35) E. Brenner, Deutsche Literaturgeschichte, Leitner, Wels o.D. S.264
(36) Dies ist die plausibelste Erklärung für den Erfolg von Familienfesten, Kollegentreffen, sozialen Veranstaltungen, wie Messen gleich welcher Art. Die Masse zwingt zur Maske: wer kennt schon wen? Man mengt sich, ohne sich zu sehen, ohne sich deswegen zu schneiden. Herdentrieb und Klassenkampf.
(37) Manuel Gasser, Das Selbstbildnis, Kindler, Zürich, 1961
(38) il n'y a que le provisoire qui dure = nur Vorläufiges hat Dauer
(39) Der Computer ist der Dritte im Bunde: er vermag, aus 0 und 1 Lösungen anzubieten.
(40) 1966. Belgischer Dichter und Zeichner (1899-1984):Hommes, regardez-vous dans le papier, schrieb er 1959.
(41) womit Lessing 1767 sich an Voltaire (Candide; 1759 ch.22: ces pauvres gens qui tâchaient de réparer les cruautés du sort) und Ange Goudar hielt, der 1757 eine Histoire des Grecs, ou de ceux qui corrigent la fortune au jeu veröffentlichte; dies als Beispiel von Spiegelungen, oft als Zitat oder Parodie, aber auch als Plagiat, ganz abgesehen von den topoi, den Themen, wie Willensfreiheit und Schicksal, verhängnisvolle Liebe, usw., die durch ganze Epochen geistern und Kulturen durchdringen.
(42) Die Übertragung des Vorbildes ist ein Vorgang, an dem man das dichterische Können am reinsten erkennt. Carl. J. Buckhardt. Ein Vormittag beim Buchhändler, Callwey, München, 1995, S.19.
(43) Gedankenlyrik, Sämtl.Werke, Cotta, 1902, Bd.I, S.xxvii.
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