Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | November 2003 | |
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Tschingis T. Aitmatov (Bishkek/Brüssel)
Botschafter Krigistans in Brüssel [BIO]
Mein Thema ist die Reflexion der modernen Version der "Seidenstrasse". Es ist ein Versuch, die Aufmerksamkeit auf die Entstehung dieses Themas und die Eindringung in die Tiefen des gegenwärtigen Massenbewusstseins sowohl auf dem Territorium des zentralasiatischen nachsowjetischen Raumes in der Zeit von der Postperestrojka bis in die postsozialistische Periode (1985-2003) als auch in den Nachbarkulturen der Welt zu lenken.
Die Menschheit erlebt zur Zeit eine durchaus dramatische Periode in ihrer Entwicklung. Meines Erachtens liegt dem die Tatsache zugrunde, dass die Welt wesentlich und vor allem qualitativ verändert worden ist. Wir sind ganz anders geworden und grundverschieden im Vergleich zu uns selber, wie wir noch vor zwanzig Jahren waren. Es ist eine neue Generation von Menschen geboren worden und aufgewachsen, für die die Welt bis auf das Maß eines direkten Telephongespräches zu einem beliebigen geographischen Punkt auf der Erde und bis zu wenigen Flugstunden bis dorthin "geschrumpft" ist. Aber es liegen auf dem Wege für diese Gespräche und Flüge noch alte Barrieren, die in der Zeit errichtet worden sind, als wir als Feinde alle diejenigen betrachtet haben, die wir nicht verstehen konnten. Und darum scheint eine der aktuellsten Aufgaben unserer Zeit zu sein, Bedingungen zu schaffen, die, wenn nicht der vollständigen Abschaffung, dann jedenfalls der Überwindung dieser Barrieren dienen können, die noch zwischen den einzelnen großen und kleinen Segmenten der Menschheit existieren. Dabei ist es sehr wichtig zu verstehen, dass diese Barrieren und Grenzen vor allem in unserem Bewusstsein verlaufen und erst dann als politische, wirtschaftliche, soziokulturelle, ethnokulturelle und andere Barrieren in Erscheinung treten. Aus diesem Grunde sollen wir, wenn wir über die Politik der friedlichen Koexistenz sprechen, über die Schaffung der Bedingungen für den Übergang von der Position der Toleranz zur Position des aktiven gegenseitigen Interesses von allen für alle sprechen, die um uns sind, sogar für die, die weit von uns sind, aber zur gleichen Zivilisation gehören, die Menschheit heißt.
Dass die Menschheit eine einheitliche Ganzheit an sich darstellt, soll jedem Menschen verständlich und bewusst werden, und die Schaffung dieses Bewusstseins soll von allen aufgebaut werden - beginnend bei der einzelnen Familie bis zu den internationalen Organisationen.
Der Begriff
Vor 1980 war das Konzept "Seidenstraße" hauptsächlich im akademischen Milieu verbreitet.
In der "Gorbatschow"-Periode der Glasnost (1985-1991) stieg das Interesse für die ehemalige UdSSR mit dem wärmeren politischen Klima an. Der Verdienst der UNESCO lag darin, dass diese Kulturorganisation das Interesse nicht nur auf eine rein russische Problematik der UdSSR lenken konnte, sondern auch auf die "kolonialen", d.h. nationalen Teile des Sowjetimperiums aufmerksam machte.
1988 wurde die "Internal Study of the Silk Road" begonnen, die eine absolut einmalige Widerspiegelung im Massenbewusstsein im Sowjetischen Mittelasien gefunden hat.
Die "Gorbatschowsche" Periode wird heute in ihrer Bedeutung für den Westen und Russland diskutiert. Für den Westen bedeutet sie die Periode des Endes des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands, für die UdSSR die unblutige Teilung des Sowjetimperiums in unabhängige Staaten sowie den unblutigen Massenexodus aus den neuen Staaten der nicht zu den ursprünglichen Einwohnern gehörenden Bevölkerung.
Ich möchte die Aufmerksamkeit der Konferenz darauf lenken, wie tief rein wissenschaftliche und kulturelle Maßnahmen die Besinnung, Sicht und Verhaltensmotivation einer großen Volksmasse beeinflussen können.
Die "Gorbatschow"-Periode verlief in Mittelasien bzw. im Kaukasus widersprüchlich, weil diese zeitlich mit dem berühmten "Fall Raschidow" bzw. "Fall Baumwolle" zusammenfiel. Der Grund für die Anklage war die Korruption in den mittelasiatischen Republiken - der Fall wird als ein politischer bzw. wirtschaftlicher beurteilt. Aber die Folgen waren traumatisch, weil es zu einer Welle der Repression gekommen ist, die mehr als 3000 Menschen betroffen hat. Es kam zur Fabrizierung eines Klischees des "Mittelasiaten" bzw. des "Usbeken" als bestechlichen Menschen.
Für die Intellektuellen, die im Geist des Internationalismus und der Liebe zur russischen Kultur erzogen worden war, bedeutete das einen Schlag ins Gesicht.
Für die mittelasiatischen Intellektuellen ist die Hinwendung zur vorsowjetischen historischen Vergangenheit der Großen Seidenstraße eine Form des Widerstandes gegenüber der sowjetischen Gegenwart geworden.
Praktisch alle mittelasiatischen Nationalideologien wurden auf den Ideen der "Seidenstraße" aufgebaut.
Wahrscheinlich aus diesem Grunde schauen sie weniger nach vorne in die postsozialistischen Möglichkeiten, sondern suchen mehr die Antwort in der Vergangenheit.
Im postsozialistischen Raum mutierten diese Ideen zur staatlichen Weihe der literarischen, historischen und mythischen Helden der Vergangenheit (Jubiläen von Manas, Tamerlan und ähnliche). Einerseits öffnete dies den Weg zur Selbstbespiegelung, andererseits wurde die "Seidenstraße" ein ungewöhnlich großes, kommerziell anlockendes Bild. Ein Bild, das den Westen durch seine Exotik gewinnen sollte - ohne die russischen kolonialen und sowjetischen historischen Schichten.
Das Bittere besteht darin, dass die Seidenstraße für die Volksmassen in Mittelasien zwei Möglichkeiten beinhaltet: "die große Vergangenheit oder die möglichen wirtschaftlichen Initiativen".
In der Zeit der Globalisierung ist die Seidenstraße eine flexible Konzeption, die noch dazu dienen könnte, einen möglichen Zuwachs von Chauvinismus und Nationalismus zu mindern.
Übersetzung aus dem Russischen: Alexandr W. Belobratow (St. Petersburg)
© Tschingis T. Aitmatov (Bishkek/Bruxelles): The Silk Road
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For quotation purposes:
Tschingis T. Aitmatov (Bishkek/Brüssel): Die Seidenstrasse.
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003.
WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/plenum/aitmatov15DE.htm