Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 4. Nr. Oktober 1999

Franz Blei als Repräsentant der europäischen Moderne

Endre Kiss (Budapest)
[BIO]

Man hätte zwei Möglichkeiten, über Franz Blei mit einem Anspruch auf konzeptionelle Endgültigkeit zu reden. Die eine wäre ein philosophischer Ansatz, der Franz Blei als ein Schicksal und als eine intellektuelle Laufbahn nach dem ENDE DER PHILOSOPHIE darstellen würde. Diese Argumentation würde auf eine Interpretation der Geschichte der Philosophie aufbauen, wonach der auch vom jungen Blei praktizierte kritizistische Positivismus oder positivistische Kritizismus ein tatsächliches Ende der Philosophie ist, das aber auch als Begründung von jenen neuen Lebens- und Denkmöglichkeiten ist, im Zeichen derer wir auch heute noch unsere intellektuelle Tätigkeit ausführen.(1) In diesem Kontext würde Franz Blei als ein Denker und Künstler NACH dem Ende der Disziplin, praktisch also schon ein vollgültiger POSTHISTORISCHER Denker auftreten. Es lässt sich leicht einsehen, dass es sowohl für die Germanistik wie auch für die Geschichte der österreichischen Literatur oder für die Soziologie der Moderne dieser Ansatz eine unerwartete Herausforderung wäre, obwohl, wenn diese Grundthesen stimmen, gerade diese jenseits der Geschichte der Philosophie liegende intellektuelle Grundbefindlichkeit das Spezifische von Bleis Leben und Werk restlos ausmachen dürfte. So kann nicht viel Zweifel darüber bestehen, dass die andere Möglichkeit, Franz Blei ganzheitlich zu charakterisieren, gewählt werden muss. Das heißt, dass Franz Blei als Organisator und gleichzeitig als die bestimmende Gestalt der "zweiten" Welle der europäischen Moderne verstanden und interpretiert wird. Indem wir diesen Weg für eine holistisch-ganzheitliche Darstellung Franz Bleis wählen, müssen wir schon am Anfang darauf hinweisen, dass die dieser Darstellung zugrundeliegende Kategorisierung der drei Wellen der europäischen Moderne im Rahmen dieser Arbeit nicht in der genügenden Ausführlichkeit analysiert werden kann.(2)

Beinahe ganz bis in unsere Jahre hinein hieß die Aufgabe einer auch historisch denkenden Ästhetik, die Moderne unter einer vorherrschenden Perspektive zu rekonstruieren, welche Perspektive die Moderne vor allem in einem konkreten Sinne VERSTEHEN wollte. Dieses leitende Prinzip des Erkenntnisinteresses wollte die Produkte der modernen Kunst so verstehen, dass die so "verstandenen" Inhalte in einen nachzuvollziehenden hermeneutischen Zusammenhang mit der Transition gestellt werden können. In diesem Zuge entstand dann das führende Erkenntnisinteresse der Moderne, welches in ihr gleichzeitig die legitime Fortsetzung und Erneuerung der Tradition und auf der anderen Seite die geradezu revolutionäre Mutation dieser Tradition erblickt und identifiziert. Daher die im wahren Sinne des Wortes unendlichen Diskussionen über die "Traditionen", bzw. über die Vorgeschichte der einzelnen modernen künstlerischen Strömungen. Auf diese Weise galt die Moderne als gleichbedeutend mit dem Neuen (allerdings bei weitem nicht mit sämtlichen Phänomenen, die neu sind, vielmehr nur mit denen, die in ihrer hermeneutischen Gegenüberstellung mit der Tradition anerkanntermaßen die besagte Qualität aufzeigen konnten).

Das Wesentliche an dieser Einstellung besteht also in der spezifischen Mischung von dem gleichzeitigen Erkenntnisinteresse für das qualitativ Neue und aus diesem Grunde hermeneutisch noch "Unverständliche", von dem Willen, dieses qualitativ Neue in den Strom der Tradition hineinzustellen, sowie von der Absicht, einen spezifischen allgemeinen heuristischen Gewinn im Laufe dieser hermeneutischen Prozesse für die verschiedenen Systeme des Wissens zu erzielen, der dann in ähnlichen späteren Prozessen ebenfalls mit der begründeten Chance der besseren Verständigung gebraucht werden kann. Die Beschreibung dieser Grundeinstellung ist für uns von der größten Wichtigkeit, denn es ist genau diejenige Grundeinstellung, die in unseren Jahren eine rapide und wie es scheint, beinahe irreversible Änderung erleben.

Man fragt, von postmodernen Impulsen geleitet, nicht mehr unmittelbar nach der Beschaffenheit der Moderne. Man fragt nach der Beschaffenheit der Moderne, NACHDEM man sich zu einem bestimmten konkreten Begriff der Postmoderne bekannt hat. Die ganze Intentionalität der Fragestellung ist eine andere geworden. Die konkrete und unmittelbare Absicht, die Moderne zu beschreiben und zu bestimmen, verwandelte sich in ein favorisiertes Gebiet der postmodernen Reflexion.

Diese Überlegungen über die Moderne sind unerlässlich, um für die Interpretation der einmaligen Leistung Franz Bleis den adäquaten historischen und begrifflichen Rahmen zu finden. Auf der einen Seite verstehen wir den Wechsel in der Intentionalität der Moderne gern, weil wir in der Entstehung der Postmoderne eine große, wichtige und letztlich auch spontane Kulturentwicklung erblicken. Die Entstehung des "postmodernen Zustandes" (Jean-Francois Lyotard) gilt somit als eine legitime und eigengesetzliche Entwicklung, von der seitdem ebenso legitime und eigengesetzliche weitere Entwicklungen ausgegangen sind. Auf der anderen Seite protestieren wir gegen diesen Wechsel der Intentionalität der ganzen Moderne/Postmoderne-Diskussion, denn in dieser abgekürzten und in den meisten Zügen sogar noch zufälligen Perspektive jedes bestimmende Motiv und jeder mögliche historische Kontext und Inhalt der "wirklichen" und "real existierenden" Moderne mit voraussehbarer Notwendigkeit ganz untergehen muss. Wir erkennen das Anrecht der Postmoderne an, sich selbst zu artikulieren und sich selbst in den Mittelpunkt der Diskussionsstrategien zu stellen. Wir erkennen aber nicht mehr an, dass die an sich also legitime postmoderne Perspektive die bestimmende historische und interpretatorische Perspektive der Interpretation der Moderne überhaupt wird.

Der Wechsel der Perspektive zeigt sich jedoch nicht nur in der allgemeinen Einstellung, sondern erscheint auch auf dem Niveau der expliziten Theoriebildung. Denn - von der postmodernen Perspektive ausgehend - redet man schon auch schon in expliziter Weise von einem PROJEKT der Moderne. Das "Projekt" der Moderne (ob geistig, intellektuell, technisch, politisch oder die benannten Facetten miteinander kombinierend) wird also nicht mehr aufgrund der vielfachen Analysen der einzelnen Modernen (wie etwa Franz Bleis) rekonstruiert, dieses Projekt der Moderne wird durch eine Konfrontation mit der Postmoderne rekonstruiert, in dem höchsten Ausmaß aktualistisch und zufällig. Nunmehr wird die Moderne "nicht nur" durch die Brille der Postmoderne gesehen, von jetzt an werden auch die Umrisse der (übrigens nie existenten) Projekte der Moderne jenen Autoren in die Schuhe geschoben, die gewiss nichts mit diesen Projekten zu tun haben dürften, allein schon aus dem Grunde, weil sie damals noch keine Ahnung weder von der Postmoderne überhaupt, noch von deren einzelnen Schwerpunkten gehört haben konnten. Identifiziert man die Postmoderne etwa mit einer antiaufklärerischen Einstellung, so ergibt sich daraus zwingend die Konsequenz, dass deshalb die Moderne eben "aufklärerisch" eingestellt sei. Aus einem vermeintlichen "Projekt" entsteht auf diesem Wege ein anderes vermeintliches "Projekt", wobei das ganze Verfahren ohne jegliche gezielte historische Forschung auskommt und dadurch mit den wirklichen inhaltlichen Bestimmungen der wirklichen Moderne kaum etwas zu tun hat. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass in der Postmoderne tatsächlich antiaufklärerische und in der Moderne tatsächlich aufklärerische Momente aufkommen - keine Bestätigung dieser Art kann das grundsätzlich verfehlte Verfahren einer Kategorisierung ohne gezielte inhaltliche Forschung im nachhinein legitimieren. Um auf unseren Gegenstand zurückzukommen, darf es wohl auf das Eindeutigste ausgesagt werden: Franz Blei, als ein wirklicher schöpferischer Genius und Organisator der wirklichen Moderne, würde ein voller Verlierer einer so begründeten Interpretation der Moderne werden, denn was er als Moderner tat, hat nichts zu tun mit einer von der Analyse der Postmoderne abgezogenen Attitüde.

Fasst man nun endlich die wirkliche Geschichte der Moderne ins Auge, so kann es bald klar werden, dass so etwas wie eine homogene (und schon aus diesem Grunde einer mehr oder weniger ebenfalls homogenen Postmoderne entgegenzusetzende) Moderne überhaupt nicht existiert. Die Größenordnung der mit der Rekonstruktion der (wirklichen) Moderne zusammengehenden spezifischen wissenschaftstheoretischen und methodischen Probleme wird einigermaßen sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Moderne eine mehr als hundert Jahre alte Geschichte hat. In diesem Zeitraum finden wir zahlreiche künstlerische und andere intellektuelle Produkte, die bereits in der Periode der Moderne, d.h. schon NACH bereits dezidiert "modernen" Tendenzen auftraten, ohne selbst "modern" zu sein. Dieses Phänomen wird in der Literaturgeschichte unter anderen Kategorien als "Klassizisierung" oder "Neuer Klassizismus" bezeichnet. Somit entsteht die neue Frage, ob die Produkte dieses neuen "Klassizismus", d.h. die Objektivationen von "intermodernem" Ursprung und "intermoderner" Geistigkeit(3) selber organische Bestandteile der Moderne seien, denn hier ginge es darum, künstlerische und intellektuelle Objektivationen als "modern" zu kategorisieren, die PER DEFINITIONEM nicht modern sind.(4) Nimmt man etwa den polyhistorischen Roman von James Joyce als ein exemplarisches modernes Werk (obwohl der ULYSSES selber eine Enzyklopädie der früheren Moderne ist), was könnte man im Zusammenhang mit dem Roman DER MEISTER UND MARGARITA von Michail Bulgakow annehmen, der in seinem Roman auf gleiche Weise zahlreiche Elemente der bisherigen Moderne schon als Motive in sein klassisches Grundgewebe aufnimmt.

Aus der Annahme, die Moderne sei generell aufklärerisch, bleibt wieder nichts bestehen, wenn man die These mit Ergebnissen direkter Forschungen konfrontiert. In einer post-aufklärerischen Gesamtsituation gibt es keine zwingenden Verbindungen mehr zwischen Moderne und Aufklärung. Es gibt zusammenhängende Bereiche der Moderne, die im Lichte näherer und konkret gezielter Forschungen als direkt anti-aufklärerisch erscheinen müssen, während ganze Wellen einer neuen Aufklärung ebenfalls als Bestandteile der Moderne gelten müssen; kein Wunder, dass man in diesen Fällen oft sogar noch die Bezeichnung einer "Zweiten Aufklärung" riskieren könnte.(5) Die Moderne als ein im breitesten Sinne verstandenes übergreifendes Phänomen konstituierte sich "in Wirklichkeit" nicht nach der Diskursordnung der Aufklärung oder der Gegenaufklärung, aber auch nicht nach derjenigen des Rationalismus oder des Irrationalismus, generell gesagt, sie artikulierte sich "in Wirklichkeit" nicht nach Gesichtspunkten unserer "postmodernen Welt". Wird die Moderne trotzdem (wie es so oft der Fall ist) so aufgefaßt(6), so bedeutet es eine so deutliche idealtypische Ausdehnung der Diskussion, dass sie (d.h. die Diskussion - E.K.) dadurch nicht mehr geeignet sein kann, in der Analyse eines konkreten Phänomens der wirklichen "historischen" Moderne mit der Chance auf einen Erfolg gebraucht zu werden. Das genau ist jetzt unser Fall mit Franz Blei. In kaum einem anderen Zusammenhang entlarvt sich die aus der Postmoderne stammende und dadurch (mit diesem oder jenem Inhalt) "ideologische" Sicht auf die Moderne als illegitim und inadäquat. Denn eine Rekonstruktion des Werkes und des Phänomens Franz Bleis, die etwa von der "condition postmoderne" oder der postmodernen Dekonstruktion ausgeht, zeigt sich bereits auf den ersten Augenblick als absurd und paradox.

Diejenige Rekonstruktion der Moderne, die mit der wirklichen ästhetisch-künstlerischen Sphäre sinnvoll in Verbindung gebracht werden kann, ersteht im Umfeld von einigen bestimmenden und umfassenden allgemeinen Rahmenbedingungen. Die eine derselben ist das Aufkommen der Großstadt mit ihren vielfach neuen Daseinsbedingungen, die tatsächlich neue "Existenzbedingungen" mit sich bringen . Es gibt keinen Intellektuellen, der diesen rasenden Umschwung des Lebens und der Wahrnehmung nicht vielfach am eigenen Leib erlebt hätte. So wird die (von Walter Benjamin dann auch theoretisch wie historisch kanonisierte) Reflexion Charles Baudelaires in jedem wesentlichen Zusammenhang "klassisch" und als solche fundamental.

Eine weitere, ebenfalls umfassend bestimmende Rahmenbedingung der wirklichen Moderne ist ein breit interpretierbarer erkenntnistheoretischer Relativismus, der aus der großen Umwälzung der zeitgenössischen Wissenschaften hervorging und deren Auswirkungen sowohl in die einzelnen intellektuellen Fragestellungen wie auch in den Alltag der "modernen" Zeit auch dann noch eingingen als die direkten Konnexionen dieser Wende schon auch den Zeitgenossen klar gewesen sein mochten.(7)

Eine weitere und ebenfalls umfassende, wenn nicht gar zivilisatorisch relevante Rahmenbedingung der Moderne ist der ganze Problemkomplex der "Sinngebung", d.h. jener neuen "condition humaine", wodurch sich der Mensch dieser Zeit, der Mensch der "Moderne" nunmehr sich vor die Aufgabe gestellt sehen muss, durch seine Einsicht und durch seine praktische Tätigkeit seinem Leben und der verschiedenen menschlichen Integrationsformen einen "Sinn" zu geben. Schlagwortartig zusammengefasst, mit dem Ende der Möglichkeit einer "jenseitigen" Einstellung wird der nunmehr "diesseitig" gewordene Mensch gezwungen, nach dem "Tod Gottes" selbst seiner Existenz einen Sinn zu geben.(8)

All diese führenden und wesentlichen neuen Rahmenbedingungen (die nicht all vorhin im einzelnen angesprochen worden sind) lassen sich auch mit der Terminologie der modernen Sozialphilosophie als "Entzauberung der Welt" (Max Weber) oder als "Übergang von substantiellen Formen und Werten in funktionelle Beziehungen und Vernetzungen" (Karl Mannheim) beschreiben. Dieser Zusammenfall hat, wie ersichtlich, also für die Forschung auch jenen Wert, dass hier die soziale und die intellektuelle Moderne auf eine eindeutig identifizerbare Weise miteinander in Berührung kommen.

Es versteht sich ferner, auch als Evidenzvorstellung, dass dieser gewaltige Prozess, der unter anderen die bis jetzt exemplarisch erwähnten neuen und umfassenden Rahmenbedingungen der Moderne überhaupt entstehen lässt, ihren direkten und gleichzeitigen Niederschlag auch auf die Veränderung des sozialen Ortes sowohl des Künstlers wie auch der einzelnen künstlerischen und intellektuellen Tätigkeiten hat.(9)

Die weitere Erschließung der "wirklichen", d.h. der nicht von der "postmodernen" Warte aus gesehenen Moderne evoziert auch eine stattliche Reihe spezifischer methodischer Probleme, die wir an dieser Stelle auch ausführlich darstellen sollten. Es geht hierbei um die spezifisch methodischen Probleme der unvermeidlichen Idealtypisierung, ferner das Problem, die "inneren" Sprachen und Kategorien der einzelnen modernen Strömungen mit den "äußeren" Sprachen der zeitgenössischen und der späteren Beschreibungen und Analysen in Übereinstimmung zu bringen, denn es lässt sich kaum eine adäquate Analyse eines beliebigen modernen Phänomens vorstellen, in welcher keine Brücke zwischen der "inneren" und der "äußeren" Sprache geschlagen wird. Nicht ausgelassen werden dürften die weit verzweigten Probleme der Theoriebildung, denn jede Konzeption der Moderne ist auf ihre Weise eine "theoretische" Rekonstruktion. Zur tiefsten und kaum ausdiskutierten Problematik gehört ferner auch eine Reflexion des Verfahrens, die meisten konzeptionellen und zusammenfassenden Ansätze, in den allermeisten Fällen die "Theorie" der Moderne, stets nach dem Muster einer einzigen literarischen oder künstlerischen Gattung zu formulieren wird. HIer wäre gleich die Frage zu stellen, ob eine so hergestellte Konzeption überhaupt auf Produkte der anderen Gattungen angewandt werden dürfte.

Angesichts dieses einmaligen Ausmaßes der wissenschaftstheoretischen Problematik, deren Elemente ja auch in den früheren Diskussionen der Literatur- oder Kunstgeschichte, bzw. in der modernen Ästhetik vorhanden gewesen sind, die aber durch die Heranziehung der Elemente der neuen wissenschaftstheoretischen Diskussion zum Teil auch schon anders definiert werden können, schlagen wir eine andere Verfahrensweise bei der Rekonstruktion der Moderne vor. Sie geht zunächst von der GESCHICHTE der Moderne aus und versucht, die nacheinander folgenden Etappen voneinander sinnvoll zu trennen, sie im einzelnen relevant zu beschreiben und die einzelnen Wellen der Moderne auch miteinander zu konfrontieren. Uns scheint dieses Verfahren eine vielversprechende Synthese zu sein, in welcher explizit identifizierte und durch Analysen belegte und erst nachher verallgemeinerte kunsttheoretische, genealogische, historische, soziologische, kulturgeschichtliche und wissenssoziologische Aspekte und Inhalte sich optimal vereinen können, aber auch die tatsächlich "immanenten" ästhetisch-künstlerischen Motivationen und Inhalte zu ihrem vollen Recht kommen könnten. Eine Synthese dieser Art dürfte letztlich auch fähig sein, eine wirklich brauchbare und elastische "Metasprache" (sowohl im konkreten wie auch im übertragenen Sinne) für die ganze Phänomenenwelt der Moderne zu bieten. Diese Metasprache dürfte sowohl mit der eigenen Sprache und Ausdruckswelt der betreffenden Werke, aber auch mit der Sprache und Ausdruckswelt ihrer Autoren und ihrer Zeit in Übereinstimmung gebracht werden, dies aber so, dass gleichzeitig auch der Charakter der Metasprache realisiert wird.(10)

Als ein weiterer und relevanter Vorteil dieses Verfahrens empfiehlt sich die Tatsache, dass es von Anfang an jenem Zusammenhang voll Rechnung tragen kann, in welchem die europäische Moderne einen INTERNATIONALEN und ÜBERNATIONALEN Charakter trägt. Jede Welle der Moderne meldet sich im Prinzip in jeder einzelnen nationalen Kultur, ist aber von Anfang an allgemein und übernational. Die Streuung der Inhalte der einzelnen Wellen der europäischen Moderne in den einzelnen Nationaliteraturen markiert gleichzeitig die Grenzlinien, die die einzelnen Kulturen und Nationalliteraturen voneinander trennt. Historische soziologische und andere Differenzen bewirkten, ob in der einen (nationalen) Kultur die eine Welle der europäischen Moderne und in der anderen (nationalen) Kultur die zweite oder die dritte Welle die vorherrschende war, führt zu der bunten und mehrschichtigen Landkarte der europäischen Moderne. Auf diese Weise differenzieren sich die einzelnen, schon modernen Kulturen voneinander dadurch, welche konkrete Welle der europäischen Moderne in einer konkreten Kultur und Gesellschaft vorherrschte, welche Welle in einer gegebenen nationalen Kultur die "klassische" moderne Welle und Richtung geworden ist. Denn die "Klassizität" einer Welle der Moderne hat ihrerseits eine inkommensurable Bedeutung für eine Kultur, denn diese Welle repräsentiert für eine ganze Kultur die Grenzen zwischen dem Alten und dem Neuen und die konkreten Inhalte und Wahrnehmungen dieser einen Welle repräsentieren auf klassische Weise das Neue für ganze Generationen. Auf diesem Wege ist die in unterschiedlichen Konkretisierungen erscheinende Moderne auch eine FUNKTIONALE und eine STRUKTURELLE Größe geworden. Eine bestimmte Welle der europäischen Moderne erscheint mit Notwendigkeit in einer vollkommen anderen Beleuchtung, wenn sie VOR oder NACH einer anderen Welle artikuliert worden sind. In der skandinavischen intellektuellen Entwicklung zeigte sich die ERSTE Etappe der Moderne als "klassisch" und erzielte dadurch eine einmalige funktionale und strukturelle Bedeutung. In Österreich (diesmal ohne Ungarn) und vor allem in der Wiener Kultur kam eben die ZWEITE Welle der Moderne in diese einmalige funktionale und strukturelle Position, während im Falle einzelner hervorragender Gestalten eben desselben österreichisch-ungarischen Raums (wir denken an Karl Kraus und Endre Ady) bestimmende Eigenschaften der beiden ersten Etappen harmonisch zusammenfallen konnten (im Beispiel Endre Ady's lässt es sich durch das Nebeneinander des umwertenden Persönlichkeitsidealismus und eines bewusst ausgearbeiteten vielfältigen Ästhetizismus belegen).

Diese ursprünglich scheinbar "nur" entwicklungsgeschichtliche Auffassung kann aber auch darin helfen, die bestimmendsten und wichtigsten Begriffe des modernistischen Phänomens in einer neuen Exaktheit und Präzision zu gebrauchen. Begriffe wie "l'art pour l'art", "Dekadenz", "Ornamentik" oder "Existentialität" galten und gelten als Embleme des modernistischen Phänomens. Es ist aber diese Auffassung der drei Wellen der europäischen Moderne, die eine Ordnung und Kohärenz in die Relationen dieser bestimmenden Begriffe bringen kann, denn nicht so sehr eine "synchrone" Logik, vielmehr eine strukturell motivierte "Diachronie", d.h. eine spezifische und durch Rivalität gekennzeichnete Genealogie macht die wirkliche Kohärenz dieser führenden Begriffe aus. Man kann etwa über das Phänomen und den Begriff der "Dekadenz" die verschiedensten Assoziationen entwickeln, eine völlig andere und wirklich adäquate Beleuchtung des Phänomens setzt ein, wenn die Bedeutung der Dekadenz in der ersten Welle der Moderne (etwa bei Nietzsche oder Baudelaire), dann eventuell in der zweiten Welle (Beispiel: Oscar Wilde) konstruiert wird, um dann im späteren die avantgardistische Auflösung des Begriffs und des Phänomens der Dekadenz zu verstehen und nachzuvollziehen.

Die ERSTE Welle der europäischen Moderne lässt sich durch die Einstellung der Umwertung, der kritischen Relativierung alles Bestehenden, den emanzipativen Kult des Individuums, der die Forderung der unaufhörlichen Selbstüberwindung, sogar der Gottwerdung des Menschen enthält, durch die zielbewusste und ebenfalls emanzipative Entlarvung der Lebenslügen, durch die Präferenz des Diesseits gegenüber jeglichem Jenseits, durch die ebenfalls emanzipative Befreiung der Sinnlichkeit, durch dekonstruierende Konstruktivität und konstruktive Dekonstruktivität beschreiben. Zu den bedeutendsten Repräsentanten dieser ersten Welle gehören eine allerdings auf dem Kontinent deutlich später rezipierte Reihe der französischen Erneuerer der Poesie von Baudelaire bis Rimbaud, zu ihnen gehören aber auch Ibsen, Strindberg, Zola und durch seine allerersten Rezeptionsschübe Friedrich Nietzsche. Die erste Welle des Modernismus wird mit dem damals seinen Gipfel erreichenden Positivismus vielfach verbunden, unter anderen wird der Künstler dieser Periode der Moderne sich Elemente der zielorientierten positivistischen Forschers zu eigen machen oder wird derselbe Künstler mit der aus den Voraussetzungen des Positivismus folgenden "Wertneutralität" konfrontiert und erlebt ein Vakuum der Werte, in welches er des öfteren aufgrund seiner eigenen Freiheit eintritt und es auszufüllen sucht.

Die ERSTE Welle der europäischen Moderne ist in ihrer künstlerischen Anschauung und Verfahrensweise weitgehend MIMETISCH eingestellt. In ihrer künstlerischen Praxis "ahmt" sie eine Realität nach, die sie eigens rekonstruiert. Eine INTENSIVIERUNG des mimetischen Prinzips, erfolge sie auf dem Gebiet der Malerei durch den französischen Impressionismus, in der naturalistischen Romankunst Emil Zolas oder in der Dramaturgie Henrik Ibsens, führt zu einem Prozess der spontanen Symbolwerdung, wie etwa das einwandfrei naturalistisch dargestellte Pariser Kaufhaus wie von allein, d.h. auf spontane Weise zum Symbol des modernen Großstadtlebens wird.

Die gesamte ERSTE Welle der europäischen Moderne denkt im "anthropologischen" Ideal eines sich unaufhörlich überwindenden Individuums, welches auch als ein für alle ausnahmslos erreichbares Ziel gilt. Dieses Individuum kennt in seiner Selbstentfaltung, in seinem wachsenden Leben keine Grenzen. Mit diesem Wachstum und dieser Selbstüberwindung des Individuums ist aber stets ein Interesse an der Entfaltung der Gattung verbunden, dieser Individualismus hat somit mit partikulärem Egoismus so gut wie nichts zu tun. In isomorpher Stellung erscheint hier also das spezifische Denkmodell des deutschen klassischen Idealismus, in dessen Anschauung das Individuum und die Gattung durch eine Möglichkeit, aber auch Verpflichtung der wechselseitigen Emanzipierung miteinander verbunden waren.

Die ZWEITE Periode der europäischen Moderne lässt sich mit Oscar Wildes folgender Formel am adäquatesten zusammenfassen: "Das Leben läßt in erschreckendem Masse die Formen vermissen". Das immer wieder in dieser Welle objektivierte Subjekt will sich nicht mehr im Sinne der ERSTEN Welle überwinden. Es will sich zur Essenz, wenn nicht zur Substanz der Welt machen, und zwar in eben jener Gestalt, die es eben trägt. Es gibt aber einen verwandten Zug zwischen den beiden Auffassungen, er realisiert sich aber auf die denkbar unterschiedlichste Weise. Beide Individuen wollen über sich hinaus, das der ersten Welle will sich auf eine kreative, noch nie da gewesene Weise überwinden und dadurch auch der gesamten menschlichen Gattung neue Maßstäbe setzen und zugleich auch zu einer neuen Norm werden. Es will eine spezifische EMANZIPATIONSLEISTUNG vollbringen. Das Individuum der ZWEITEN Welle will ohne Emanzipationsleistung zur Essenz werden, es will auf diese Weise seine endliche und zufällige Existenz in eine spezifisch ewige und metaphysische Dimension erheben, ohne allerdings eine "Leistung" dafür im Sinne der ERSTEN Welle aufbringen zu wollen. Die eigene existentielle Problematik wird in ihrem Geradesosein substantialisiert. Nicht die Welt prägt den Einzelnen, der Einzelne will seine Essenz der Welt aufdrängen, er will diese Essenz durch die Welt anerkennen lassen. Das eigene Ich erscheint als natürlicher und selbstverständlicher Mittelpunkt des ganzen Welttheaters. Die existentielle Problematik wird aber in den allermeisten Fällen nicht in ihrer sozialen und historischen Realität dargestellt, es werden Wege gesucht, diese existentielle Problematik UNMITTELBAR, d.h. auf eine stilisierte Form darzustellen. Aus diesem Wollen entstehen dann spezifisch künstlerische Konsequenzen, die vor allem durch Literaturgeschichte und Literaturtheorie erforscht werden sollten, denn plötzlich erschien als das Ziel künstlerischer Darstellung das Objektivieren von bewusst singulär interpretierter existentieller Problematik. Zu den leitenden Repräsentanten der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne gehören außer Wilde Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Gabriele d'Annunzio, Wispianski, Belij, Maeterlinck oder Béla Balázs.

Die Substanzialisierung des eigenen Ich, bzw. der eigenen existentiellen Problematik, führt zu einer in der Moderne auch ganz neuen Einstellung zu explizit metaphysischen und religiösen Problemen. Während die ERSTE Welle der europäischen Moderne letztlich antimetaphysisch und diesseitig eingestellt war, eröffnet der Wille zur Substanzialisierung der eigenen existentiellen Problematik neue Möglichkeiten einer neuen existentiell gefärbten intellektuellen Religiosität und eines neuen Kultes der Metaphysik.

Die ZWEITE Welle der europäischen Moderne entwickelt ein merkwürdiges und ebenfalls neues Darstellungsprinzip, und zwar das der PARTIALISIERTEN MIMESIS. Denn mimetisch bleibt diese Welle darin, dass sie die Realität gegenständlich mimetisch abbildet. Durch die Substantialisierung der eigenen existentiell verallgemeinerten Problematik entsteht jedoch die Notwendigkeit, die Überlegenheit des Subjekts gegenüber dem Objekt zu artikulieren. Durch den bereits erwähnten Willen, diese Problematik UNMITTELBAR, d.h. nicht in ihrem sozialen und historischen Kontext darzustellen, entsteht die Notwendigkeit einer stilisierten, d.h. nicht mehr mimetischen Darstellungsweise, die existentiell motivierte Ideenkonstrukte begründen, die dann - als nicht-mimetische Elemente - nach ihrer eigenen "mimetischen" Realisierung suchen. Dadurch wird das grundsätzliche künstlerische Verfahren der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne gleichzeitig mimetisch und antimimetisch. An Munchs Gemälde steht ein Liebespaar auf der Erde, es ist aber mit fein gezeichneten Wurzeln mit der Erde verbunden. Auf diese Weise SEHEN wir, was wir "in der Realität" nicht sehen könnten. Dadurch ist dieses Gemälde gleichzeitig "mimetisch" (was die Darstellung des Liebespaares anlangt), aber ebenso antimimetisch. Dieser letzte Charakter wird - wie es in den klassischen Fällen sein muss - von einer konstruktiven Idee (diesmal der Idee des Lebens) positiv motiviert.

In ihren "anthropologischen" Vorstellungen vertritt die zweite Welle der europäischen Moderne eine Konzeption, die aus ihrer Grundidee der Substantialisierung der eigenen existentiellen Problematik geradlinig folgt. Das Subjekt erlebt sich als einmalig, als unteilbar, als Selbstzweck. Er betrachtet sich also nicht als etwas, was überwunden werden muss, er erlebt sich als legitimen Teil der Metaphysik der Gegenwart.

Die DRITTE große Welle der europäischen Moderne deckt sich weitgehend mit dem Phänomen, welches man gewöhnlich als Avantgarde, bzw. als Avantgardismus bezeichnet. Die alles bestimmende Idee dieser DRITTEN Welle ist der Wille zur totalen Umwälzung von Kultur und Gesellschaft mit vollkommen neuer Formgebung und inhaltlichen Intentionen, wobei diese Konstruktion des Neuen mit der radikalen Destruktion des Alten zusammengehen muss. Diese Einstellung ist bis in die letzten Einzelheiten hinein bewusst und ist Produkt von geschichtsphilosophischen und kulturkritischen Überlegungen.

In MIMETISCHER Beziehung gilt die DRITTE Welle der Moderne, auch als Avantgardismus, als weitgehend destruktiv und dekonstruktiv. Die (frühere) gegenständliche Sphäre der einzelnen Kunstgattungen wird kritisch relativiert, wenn nicht gar vernichtet. Die Destruktion kann aber auch die eigenen Elemente der einzelnen Kunstgattungen erreichen, noch mehr, sie kann das ganze Medium der einzelnen Artikulationen (wie die Sprache selbst in der Dichtkunst, die Harmonik in der Musik oder die Mimesis in den bildenden Künsten) mit in sich enthalten. Abgesehen von den Unterschieden der einzelnen Spielarten des Avantgardismus lässt sich die DRITTE Welle der europäischen Moderne auch in expliziter Form als das definitive Ende des mimetischen Prinzips (auch in seiner Gestalt als partialisierte Mimesis) in den Künsten ansehen, kein Wunder, dass die breitere künstlerische oder literarische Öffentlichkeit bis heute diesen Zug am Avantgardismus wahrnimmt und reflektiert.

ANTHROPOLOGISCH ergibt die DRITTE Welle der europäischen Moderne ebenfalls ein vollkommen neues Bild. Während es innerhalb der ERSTEN Welle um die unaufhörliche Selbstüberwindung des Einzelnen und innerhalb der ZWEITEN Welle um die Substanzialisierung der eigenen existentiellen Problematik geht, erfolgt in der DRITTEN Welle eine Auslöschung, manchmal auch eine Selbstauslöschung des anthropologisch Individuellen als Befreiung. Indem das alte Individuum in jeder Hinsicht und bewusst ausgelöscht wird, werden die Menschen nach den Visionen der Avantgardisten für neue kollektive Verbände und Vereinigungen frei.

Nach dieser Darstellung der drei großen Wellen der europäischen Moderne bleibt uns die Aufgabe übrig, Franz BLEI im Kontext dieser Moderne zu interpretieren. Franz Blei ist eine exemplarische, wenn nicht eben eine klassische Gestalt der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne, eine Gestalt dieser Welle allerdings, die bestimmende Bezüge auch zur ersten und zur dritten großen Welle aufwies.

Als Doktorand des Ferdinand Avenarius gehört Franz Blei schon in die erste Welle der Moderne und als einer, der auch ein ENDE DER PHILOSOPHIE in der Form des Empiriokritizismus von der direktesten Nähe aus mitmachen konnte, befreite er sich in Person und Geistigkeit für die aktive Teilnahme an jeder weiteren relevanten Entwicklung. Als Organisator und Redakteur des HYPERION wurde er nicht nur Vertreter, sondern auch Ideologe und Ideenträger der ZWEITEN Welle der Moderne. Franz Blei breitete aber auch das idealtypische Universum dieser Welle aus. Einerseits dehnte er dieses Universum in Richtung einer genuin modernen neuen RELIGIOSITÄT aus. Dieses Element der genuin modernen Religiosität (vergessen wir nicht, wir sind schon nach der ERSTEN Welle der ganzen europäischen Moderne) knüpfte sich, wie erwartet, an die Problematik der Substantialisierung der eigenen existentiellen Problematik und verwirklichte sich des öfteren als Artikulation jeder Idee, die der jeweiligen partialisierten Mimesis die ideelle Grundlage gab. Franz Blei war aber auch einer jener einflussreichen Intellektuellen, die die neu interpretierte Religion als Bestandteil eines modernen Denkens auch für zahlreiche andere Vertreter der Moderne aktualisiert haben. Die bis jetzt wohl bekanntesten Spuren führen von Franz Blei zu Hermann Broch und Robert Musil, die in vielen, vielleicht sogar in den allerwesentlichsten Zusammenhängen geradezu als Schüler Franz Bleis angesehen werden dürften.(11) Zu diesen Elementen gehört Franz Bleis merkwürdige und "post-philosophische" (interpretiert man den Empiriokrizismus, dessen philosophischer Doktor ja Blei in seiner Person war, so lässt sich auch diese Bezeichnung legitim verwenden) Aufwertung des Irrationalen, die ja nicht mehr mit den üblichen großen weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Zeit zu tun hatte, vielmehr galt es als ein Versuch, das intellektuelle Universum "wirklichkeitsgetreu" zu vergrößern oder mit dem Blei-Schüler Robert Musil zu reden, neben den "Wirklichkeitssinn" auch noch den "Möglichkeitssinn" in seine Rechte einzusetzen. Eine weitere Ausdehnung der Mentalität der ZWEITEN Welle erfolgt bei Blei in der Richtung des POLITISCHEN, wobei vor allem seine nahe und auch politisch motivierte Verbindung zu Walther Rathenau, sowie seine ebenfalls politische Führungsrolle in der Wiener Räterepublik 1919 ganz besonders hervorzuheben sind. Walter Rathenau, dessen künstlerisch sublimierte Gestalt bei Robert Musil als "Großschriftsteller" Arnheim ohne Franz Blei wieder überhaupt nicht vorzustellen ist, war zweifellos der relevanteste Vertreter einer intellektuellen Politik auf dem Kontinent, deren Konzeptionen von den nicht nur neuen, sondern auch von den mit den Augen (der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne) gesehenen Grundkonflikten der Zeit bestimmt worden sind. Würde man an dieser Stelle Walther Rathenaus wichtigste Schriften auch in diese Untersuchung aufnehmen, so würde sich das Resultat ergeben, dass in der Relation Rathenau - Blei eine Grundgeschichte des neuen Konflikts der Macht und der Intellektuellen ist. Auf der einen Seite steht also Rathenau (Arnheim), der sich jeglicher problematischen und kritischen Dimension seiner eigenen Tätigkeit voll bewusst ist, sich jedoch auf die unvermeidliche Notwendigkeit großer und nicht so großer Prozesse beruft, auf der anderen Seite steht der (moderne) Intellektuelle (unter anderen) Franz Blei (im Roman unter anderen Ulrich), der sein unbegrenztes Potential an Kritik der Realität gegenüber aufbringt, jedoch ganz und gar ohne Macht bleibt. Auf der einen Seite steht also DIE Macht (in der Ideologie der Notwendigkeit und der unumgänglichen Sachzwänge), auf der andere Seite steht DIE allseitige Kritik ohne mögliche oder reale Macht. Eine weitere Dimension der Ausdehnung der grundlegenden Geistigkeit der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne in der Richtung des Politischen erfolgt 1919 als Franz Blei die Führung in der österreichischen Republik in der Ausübung seiner Konzeption der intellektuellen Politik übernahm. Während der Wiener Volksmund diese Aktivitäten Franz Bleis (zusammen mit denen Franz Werfels) auf die geniale Weise verewigte, die Revolution sei von den Herren Franz Werfel und Franz Blei gemacht, "von denen man sonst nur Gutes hörte"(12), brachte die Teilnahme an der Räterepublik Blei den unterschwelligen Verdacht eines Bolschewisten ein. Bleis ganze Politik war und blieb jedoch bis zum Ende eine PAR EXCELLENCE intellektuelle Politik, die mit den "normalen" Maßstäben der "normalen" Politik kaum zu messen gewesen wären. Für uns erweist sich der (damals ebenfalls) Blei-Schüler Hermann Broch (damals Mitarbeiter der von Blei redigierten SUMMA) auch als ein intellektuell Politisierender, dessen Vorschlag ein politisches System visionierte, welches aus einer Räterepublik als "Oberhaus" und einem demokratisch gewählten "Unterhaus" zusammen bestehen würde. Dieses Beispiel mag wohl demonstrieren, wie vorsichtig man bei der Erschließung der wirklichen Momente und Motive bei Franz Blei verfahren muss. Seine "post-philosophische", von Avenarius' Kritizismus motivierte politische Position verhalf Blei zu ganz tiefen und entscheidenden politischen Einsichten in die wahre Realität unseres Jahrhunderts.

Franz Bleis Lenin-Porträt enthält wie kaum ein anderes die wirklich bestimmenden Züge des Revolutionärs von 1917. Seine Erinnerung an die persönliche Begegnung fixiert die wohl bestimmendste Eigenschaft Lenins: "...(er) sprach uns eine völlige Nichtvorhandenheit, wenn wir nicht im Begriffe des Proletariats aufgingen...".(13) Dadurch trifft Franz Blei den Kern von Lenins Persönlichkeit, dessen völliges und restloses Aufgehen, wenn nicht gerade im Proletariat, so doch in der Sache einer effektiven sozialen Revolution gegen den Zarismus seine wahre "faculté maitresse" gewesen ist. Nicht weniger entscheidend ist Bleis Diagnose des Wissenschaftsbegriffs Lenins, der bei den klassischen, aber nach der Jahrhundertwende bereits voll und ganz überholten Charakteristiken des neunzehnten Jahrhunderts verblieben ist. Das Pikante und gleichzeitig Relevante ergibt sich aus der wissenschaftstheoretischen Konfrontation. Blei, als Doktorand von Avenarius, hat seinen spezifischen Blick auf jenen Lenin, der sein philosophisches Credo gerade gegen den anderen Empiriokritizisten, Ernst Mach, ausführte. Bleis Konfrontation mit Lenin enthält außer den eigentlichen philosophischen Schwerpunkten Elemente, die man auch für das Verständnis des Weltbildes der ganzen ZWEITEN Welle der europäischen Moderne in Betracht ziehen muss: "Mit einer mir nicht verständlichen Hartnäckigkeit kam er immer wieder auf eine "Reine Theorie der Wirtschaft" zu sprechen,

mit deren Ausarbeitung und Veröffentlichung in Avenarius' Zeitschrift und in Conrads Vierteljahresschrift ich meine wirtschaftswissenschaftliche Beschäftigung abgeschlossen hatte. Das lag fast ein Jahrzehnt zurück, und die etwas schwierigen Gedankengänge jener allgemeinen Theorie waren mir nicht mehr ganz geläufig. Nicht ihr kritischer Teil, der nachwies, dass jede bisherige nationalökonomische Theorie aus einer historischen Variante der Wirtschaft gewonnen, speziell und nicht allgemein sei und sich diesen allgemeinen Charakter nur durch eine metaphysische Introjektion assegiere. Auch Marx. Was Lenin, mehr in das Wissenschaftliche verliebt als wissenschaftlich und dazu ganz 19. Jahrhundert, bestritt. Ich war gern bereit, meine eigene Theorie preiszugeben mit der Bemerkung, dass die Wirtschaft überhaupt keine exakte wissenschaftliche Behandlung zulasse (!), aber Lenin war gar nicht damit einverstanden, die ihm teure Idolatrie der Wissenschaft aufzugeben. Er war darin nicht anders als alle Sozialdemokraten seiner Zeit, die des etwas naiven Glaubens waren, ihre Politik bedürfe solcher wissenschaftlichen Grundlegung und hinge ohne sie wirkungslos in der Luft des Utopischen.(14)

Diese im wesentlichen komplette wissenssoziologische Darstellung Lenins weist nicht nur auf die nur selten thematisierten Tatsachen hin, dass Lenins Wissenschaftsverständnis (und im späteren das seines Systems) durchaus VOR jener positivistisch-kritizistischen epistemologischen Zäsur entstand, die Blei bereits in seiner Jugend bei Avenarius hinter sich gelassen hatte. Lenin, der weltweit geltende Revolutionär von morgen, beharrte auf Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts, Blei, der spätere Bohemien und der idealtypische Intellektuelle der ZWEITEN Periode der europäischen Moderne verfügte über ein Wissenschaftsverständnis JENSEITS des 19. Jahrhunderts. Uns scheint, diese Relation Lenin-Blei muss uns Gedanken über die wahre Geschichte unserer intellektuellen Prozesse vermitteln.(15)

Bleis politische Vision, die ja untrennbar auch mit seiner philosophisch-kritischen Position untrennbar verwachsen war, kommt auch in seiner Einstellung zu Carl Schmitt deutlich zutage. Bleis Porträt über Carl Schmitt, welches ja 1940 noch manche Züge der Freundschaft und der Hochschätzung aufweist, gibt eine Analyse von Hitlers Deutschland, die in ihrer Großzügigkeit kaum ihresgleichen findet. Blei greift zunächst aus einem Schmitt-Text Schmitts Forderung nach "Artgleichheit" zwischen Führer und Gefolgschaft aus ("Nur die Artgleichheit kann es verhindern, daß die Macht des Führers Tyrannei und Willkür wird"(16)), um das ganze Nazi-Regime als ein System darzustellen, welches von diesem Punkt an schicksalhaft in dieser (eigenen!) Forderung der "Artgleichheit" gefangen bleibt. Blei kehrt Schmitts Logik auf seine virtuose Weise um: "...solange die 'Artgleichheit' des in sich einigen deutschen Volkes noch nicht erreicht ist, muss die Herrschaft des Führers Tyrannei und Willkür sein".(17) Er weist die wahre Logik des Nationalsozialismus also gerade durch eine Paraphrasierung der Schmittschen Forderung nach "Artgleichheit" nach: "...so besteht doch das Faktum des nationalsozialistischen Regierens, das jetzt seit mehr als fünf Jahren an der Arbeit ist, die Voraussetzung des nationalsozialistischen totalitären Staates, nämlich die Artgleichheit zu schaffen".(18) An dieser Stelle folgert Blei so: "Daher besteht der nationalsozialistische Staat noch nicht!"(19) Darin ist auch die Prophezeiung der diabolischen Logik des deutschen Nationalsozialismus vorgezeichnet: Das System muss die "Artgleichheit" verwirklichen und dieser Wille führt in das Nichts und in den Tod.

Nicht nur Lenin und Schmitt, auch Walther Rathenau und Georges Sorel gehören in jenen Kreis von politischen Denkern und praktischen Politikern, die nicht nur den Antlitz des Jahrhunderts weitgehend bestimmt haben, sondern auch ausschließlich nur durch kritizistische Arbeit und durch eine jenseits des neunzehnten Jahrhunderts liegende Epistemologie verstanden werden konnten.(20) Blei setzt sich mit dem von ihm ebenfalls persönlich bekannten Goerges Sorel so auseinander, dass seine intellektuelle Verwandtschaft mit ihm stets sichtbar wird. Dabei sind nicht so sehr Sorels positive und plakative Optionen von größerer Bedeutung. Denn jede positive Option gewinnt ihre wahre Glaubwürdigkeit aus den ihnen vorangehenden kritisch-analytischen Einsichten. Und da Georges Sorels Zeitanalyse nicht nur methodisch, sondern auch in ihren Inhalten mit Bleis Überzeugungen übereinstimmt, kann tatsächlich kein Zweifel darüber bestehen, dass Blei mit Recht sein ALTER EGO in Sorel erblickt. Und dies hat auch noch eine ganz besondere literaturhistorische Bedeutung.(21) Denn Blei - und dies ist für die ganze ZWEITE Welle der europäischen Moderne charakteristisch - entfaltet auch seine ästhetischen Positionen vor dem Horizont seiner Zeit- und Kulturkritik und es heißt auch, dass jedes wirklich bestimmende ästhetische Element (von der Substantialisierung der eigenen existentiellen Problematik bis zur partialisierten Mimesis) auch auf die politische Gesamtinterpretation der Gegenwart bezogen werden muss.

Bei der Einschätzung von Franz Bleis literarischer Bedeutung ist es nicht leicht, zwischen seinen zwei gewaltigen Verdiensten zu wählen. Einerseits ist seine Entdeckung Franz Kafkas, seine langjährige sokratisch-erzieherische Tätigkeit bei Autoren, aus denen im späteren ein Hermann Broch oder ein Robert Musil geworden ist, eine Leistung, die direkt von weltliterarischer Geltung ist. Andererseits ist Franz Blei eine kreative integrierende und organisierende Persönlichkeit der ganzen ZWEITEN Welle der europäischen Moderne. Auch dieser Franz Blei soll seinen gebührenden Rang im europäischen Kulturbewusstsein erhalten.

Dass Franz Bleis intellektueller Höhepunkt und dadurch seine wahre Bedeutung in die ZWEITE Welle der europäischen Moderne fiel, bedeutet auch in seinem Falle nicht, dass sein Werk keine relevanten Berührungspunkte mit der ERSTEN und DRITTEN Welle gehabt hätte. Mit der ERSTEN Welle verband ihn (wie so viele andere auch) seine Nietzsche-Interpretation, seine Auffassung des Sozialismus oder seine Arbeit bei Avenarius. Seine Berührung mit der DRITTEN Welle lässt sich unter anderen durch seine Zusammenarbeit mit Pfemferts radikal-avantgardistischer Zeitschrift DIE AKTION zeigen, wobei Blei in seiner Mentalität im Avantgardismus selbstverständlich nie ganz aufging. Denn die drei Wellen der Moderne waren zwar von den einzelnen leitenden intellektuellen Persönlichkeiten gemacht, sie erschienen aber dann selbst vor diesen Persönlichkeiten als fremde und äußerliche Mächte, die sie stets vor neue Wahlen stellten. Sie selber waren in dieser Dynamik gefangen, denn sie konnten auch nicht ihre modernistischen Aussagen von gestern wiederholen, die Entwicklung ging auch noch über jene grundsätzlichen Gestalten hinaus, die - wie Franz Blei - als Initiatoren ganz neuer Richtungen und Einstellungen allseits bekannt geworden sind. Bedenkt man, dass die die jeweiligen bestimmenden Phänomene ablösende Dynamik der einzelnen modernistischen Ansätze so schnell war, dass sie die zeitlichen Dimensionen eines Menschenlebens weit überstieg, so dass gerade der wahre Moderne stets am allerernstesten gefährdet war, ein schnell vergessenes Denkmal seiner selbst zu werden. Daraus erscheint ein Zug, der in der literaturhistorischen Beurteilung regelmäßig falsch eingeschätzt wird. Die stete Wandelbarkeit, die stets einsetzenden Erneuerungsversuche vieler modernistischer Autoren (aber auch Franz Bleis) fungieren oft als Zeichen der inneren Inkohärenz und Identitätslosigkeit. Wie wir gesehen haben, soll dieser Zug der steten Wandelbarkeit als harte Notwendigkeit für die modernistischen Akteure angesehen werden, als eine Eigenschaft, die vielleicht auch noch dafür verantwortlich ist, dass die einzelnen Inhalte der drei Wellen der europäischen Moderne die jeweilige Gesellschaft nicht gründlich und umfassend genug durchdringen konnten.

Jener Franz Blei, der im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts als integrierende Gestalt der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne auftrat, lässt sich aus seiner Schrift PRINZ HIPPOLIT (1901) mit genügender Exaktheit rekonstruieren. Mit Recht wurde in diesem Zusammenhang bereits auf Pater und Hofmannsthal hingewiesen(22), wir würden nur hinzufügen, dass sowohl Pater wie auch Hofmannsthal wie auch die ganze modernistisch erneuerte Gattung des platonischen Dialoges inhärente und konstruktive Bestanteile der ganzen ästhetischen ZWEITEN Welle der Moderne waren. Die stilisierte und idealtypisierende Selbstdarstellung (etwa in der Form von Selbstportraits) ist selbst eine Art der Realisierung der mehrfach hervorgehobenen Tendenz zur "Substantialisierung der eigenen existentiellen Problematik".

Prinz Hippolit, die idealtypische Gestalt (sowohl Franz Bleis wie auch der ganzen ZWEITEN Welle der europäischen Moderne) erscheint im Kontext eines breiten kulturkritischen und ins Geschichtsphilosophische hinübergreifenden Panoramas. Nach Bleis Einsichten in die Werke Nietzsches, Avenarius', Lenins und Sorels müssen wir dieses Panorama schon durchaus ernst nehmen und wenn möglich, auch buchstabentreu lesen:

So merkwürdig diese dreissig Jahre, die auf die deutschen Siege folgten, für den Kulturbeschreiber sind, so barbarisch waren sie für den, der sie unbeteiligt erlebte. Die Moral des evangelischen Christentums erfolgte ihre letzte Renaissance in dem Sozialismus und [...] als nun laut und förmlich die andere Artung ihrer moralischen Gefühle ausriefen, wobei sie sich einer dubiosen literarischen Antike bedienten, um einen übel verstandenen Individualismus die dem Deutschen so teure historische Grundlage zu geben.(23)

In einer "post-christlichen" und auch schon "post-sozialistischen" Periode kommen nach Blei also neue "übel verstandene" individualistische Züge auf, die die kulturelle Gemeinschaft um ihre Identität bringen. Aber auch die neue Kunst fand sich in den letzten dreissig Jahren, d.h. in der Periode nach der Errichtung der deutschen Einheit nicht: "Die durch das politische Staatserbauen lahmgelegte Kraft der Künstler war nun, da der Luxus wieder nach ihr verlangte, unsicher geworden ..."(24) Diese selbst an politischen Motiven nicht arme kulturkritische Darstellung zeichnet das Umfeld der Moderne:

Diese Unsicherheit in den Künsten ist nur ein Beispiel für die, welche allenthalben in der Gesellschaft herrschte. Wie dort noch die Persönlichkeiten fehlten und sich die Geschicklichkeiten mühten, so hatte auch hier die Sicherheit in Form und Gehaben, in Anschauung und Meinung einem problematischen Verhalten Platz gemacht, das einmal die Willkür gut hieß ...(25)

Dieser kulturkritisch aufgebaute Hintergrund führt zur Bestimmung der Rolle der Kunst und des Künstlers In DER MODERNE:

Den Künstlern war in dieser kunstfeindlichsten Zeit Deutschlands die Aufgabe gewachsen, in eine bessere Zeit die Köstlichkeit der Kunst zu retten, und sie mussten es oft mit allen Übertreibungen und vielem Dandysmus tun...So unerträglich und pervers (!) damals ihre Einseitigkeit auch den meisten erschienen ist, so war sie nötig und natürlich ...(26)

Dadurch ersteht auch das wahre Ideal des Künstlers in der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne:

Die Meinung der Künstler, dass von den Künstlern aus eine Neubildung der geselligen Formen (!) einzig erreichbar sei, dies ist als nicht weiter merkwürdig hinzunehmen. Aber die gleiche Meinung erfaßte auch die Laien, die Außenstehenden, die den Zufall des schönen Genusses zur Permanenz zwingen zu müssen glaubten, indem sie oft alle ernste, wenn auch bescheidene Lebensführung aufgaben, um als geistige Bohemiens dem Kunstenthusiasmus zu obliegen.(27)

Bleis bewusst feine Formulierung kann (und will) nicht verdecken, das er auch der Meinung ist, in dieser Gegenwart könnten nur die Künstler die Gesellschaft wirklich reformieren, und zwar auf dem Wege des lebensreformatorisch aufgefaßten eigenen Beispiels. Dieser Ansatz zeigt uns das ganze Phänomen der Moderne von einer selten gesehenen, nichtsdestoweniger aber relevanten Perspektive. Da das "normale" Erkenntnisinteresse die Moderne vorwiegend ästhetisch-kunsttheoretisch und darüber hinaus auch noch als DAS NEUE in die Untersuchung nimmt, so schafft dieses Interesse ein zweigeteiltes Universum von einer "normalen" Prämoderne und einer Moderne, die das "Neue" bringt. In Bleis Analyse erscheint eine Moderne, die selber als eine Reaktion, wenn nicht eben als ein Krisensymptom der an sich als "normal" angesehenen Gesellschaft erscheint(28) Die neue Integrationsrolle des Künstlers erscheint bei Blei wie folgt:

Denn nicht die Gedanken sind es, die interessieren, sondern der Mensch, der sie hat. Hippolit ging seinen Gästen, denen, die es noch nötig hatten, mit dem eigenen Beispiele voran...Nie hatte man bei stärkerer Würde größere Freiheit darin gesehen, dass jeder die Art seines Lebens betonen konnte, wie immer es auch war; dass ein ungeschriebenes Zeremoniell des Verkehrs wohl dessen Formen bestimmte und äußere Gleichheiten schuf, die nur um so stärker die Verschiedenheiten der einzelnen zum Vorschein brachten.(29)

Das ist der Punkt, auf welchem das Grundmotiv der ZWEITEN Welle der europäischen Moderne seine neue Gestalt annimmt. Denn die Substanzialisierung der eigenen existentiellen Problematik trägt zweifelsohne narzistischen Charakter, nichtsdestoweniger wird dieser narzistische Charakter als mögliche Norm und Orientierung gedacht. So lässt sich Oscar Wildes früher schon zitierte Aussage adäquat verstehen ("Das Leben läßt in erschreckendem Grade die Formen vermissen"). Hat Wilde recht, so folgern die Vertreter der ZWEITEN Etappe der europäischen Moderne, so ist es höchste Zeit, dass sie neue Normen und Formen des Lebens verwirklichen. Auch wenn sie wissen, was Blei so formuliert:

Wir nennen Gegenwart, was wir mit unserer Gegenwart, was wir mit unserer Energie und Lust am Leben an Zeit fassen können und wissen wohl, dass es nur Vergangenes und Künftiges gibt und alles stärker und fruchttragender als einer Vernunfterkenntnis lähmende Gewißheit.(30)

© Endre Kiss (Budapest)

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Anmerkungen

(1) S. die folgende monographische Arbeit des Verf.: FRIEDRICH NIETZSCHE FILOZÓFIÁJA. Budapest, 1993, in welcher die Philosophie Friedrich Nietzsches in diesem Geiste rekonstruiert wird.

(2) Am ausführlichsten in Endre Kiss, SZECESSZIÓ EGYKOR ÉS MOST. Budapest, 1984. - Eine deutschsprachige Arbeit über dieses Thema: "Partialisierte Mimesis und künstlerischer Gedanke. Ein Versuch, den Jugendstil zu interpretieren", in: ANNALES UNIVERSITATIS SCIENTARIUM BUDAPESTIENSIS DE ROLANDO EÖTVÖS NOMINATÄ. Sectio Philosophica et Sociologica. Tomus XXI. Budapest, 1987. 151-164.

(3) Der Begriff der "Intermoderne" stammt aus Veronika Spira's Arbeit über Michail Bulgakow's DER MEISTER UND MARGARITA IN DER SICHT EINER SYNTHETISCHEN INTERPRETATION (Budapest, 1990).

(4) Ausgearbeitet im Buch des Verf. DER TOD DER K.U.K. WELTORDNUNG IN WIEN. Wien-Köln-Graz, 1986.

(5) S. FRIEDRICH NIETZSCHE FILOZÓFIÁJA, a.a.O.

(6) Exemplarisch erfolgte es in Jürgen Habermas' zahlreichen Angriffen an die Postmoderne. Hier wird insbesondere der methodische Hintergrund dieses Verfahrens problematisiert.

(7) Die in der überwiegenden Mehrheit exzessiv kämpferischen Stellungnahmen in der Polemik "Relativismus - absolute Setzungen" charakterisiert jede Welle der europäischen Moderne, und zwar in jedem Zusammenhang ihrer Auseinandersetzungen. Es weist darauf hin, dass hinter der modernistischen Szene die gewaltige zivilisatorische Wandlung von "absolutistischen" zu "relativistischen" Wertsetzungen steht.

(8) Es kann also keine Moderne geben, die die spezifische moderne Sinngebung nicht als ihre eigentliche und authentische Aufgabe erachten würde. Unter den drei gewaltigen Wellen der europäischen Moderne existiert freilich eine breite Streuung der Interpretation dieser Aufgabe und Mission.

(9) Unter diesem Aspekt liefert die Geschichte der Moderne zusammenhängende Beiträge zu einer Geschichte der Intellektuellen in Europa. Vergleicht man etwa Nietzsche, Hofmannsthal und Rubiner oder Endre Ady, Béla Balázs und Lajos Kassák, so lassen sich die betreffenden Verschiebungen leicht demonstrieren.

(10) Da die hinter der partialisiert-mimetischen Darstellungsweise stehende künstlerische Idee in keiner Hinsicht AB OVO bestimmt ist (und bestimmt werden kann), weichen die einzelnen Werke dieser ZWEITEN Welle voneinander prinzipiell ab. Ihre Gemeinsamkeit lässt sich weder auf der thematischen, auch nicht auf der stilistischen, erst jedoch auf der kunsttheoretischer Ebene ausweisen.

(11) Über diese Beziehungen s.a. spätere Teile unseres Versuchs.

(12) Über die Singularität mancher Schicksale, die auf direkte oder indirekte Weise auch mit Franz Blei in Verbindung gebracht werden konnten, s. vom Verf. "Rathenau, Lukács, Wittgenstein", in: WITTGENSTEIN - EINE NEUBEWERTUNG. Akten des 14. Internationalen Wittgenstein-Symposiums. Wien, 1990. 298-300.

(13) "Lenin", in: ZEITGENÖSSISCHE BILDNISSE. Amsterdam, 1940. 11.

(14) Ebenda, 12-13.

(15) Zu dieser einmaligen Lenin-Darstellung Bleis gehört die Pointe, die Lenins Revolutionstheorie wie auf einen Schlag durchleuchten kann: "Diese Masse war gewonnen, indem er ihre Parole wiederholte: Schluß mit dem Krieg. Diese Masse war gewonnen, aber die nächste Frage war, dass sie beisammenblieb. Dazu kein Wort von den Bauern, die den größten Teil dieser Masse ausmachten. Sondern: Lenin nannte sie Soldaten. Keine Rede von Bauern- und Arbeiterräten. Sondern: Soldaten- und Arbeiterräte. Diese Armeen russischer Bauernjungen bekämpften die Contre-Revolution auf allen Fronten bis zum Siege. Nicht der 'Marxismus' hat gesiegt, sondern der 'Leninismus'. Damit war die materialistische These, dass die Wirtschaft die Geschichte bilde, daß Politik nichts sonst sei als Wirtschaftspolitik, widerlegt" (EBENDA, 16).

(16) "Carl Schmitt", in: ZEITGENÖSSISCHE BILDNISSE, 27.

(17) Ebenda.

(18) Ebenda, 28.

(19) Ebenda.

(20) Vgl. die Anmerkung (11), sowie die diesbezüglichen Äußerungen Ernst Schönwieses, der in seinen Erinnerungen an die Wiener Literatur Bleis vermittelnde Tätigkeit stets erwähnt. S. dazu Bleis Text über Walther Rathenau, in: ZEITGENÖSSISCHE BILDNISSE, a.a.O.

(21) Eine sehr wertvolle Bemerkung Bleis über Sorel: "Kein Franzose (übrigens auch kein Deutscher) hat im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts Nietzsche aufmerksamer gelesen als Georges Sorel" ("Georges Sorel", in: ZEITGENÖSSISCHE BILDNISSE, 118.).

(22) Gregor Eisenhauer, DER LITERAT. Franz Blei - Ein biographischer Essay. Tübingen, 1993. 81.

(23) "Prinz Hippolit", in: PORTRÄTS. Herausgegeben von Anne Gabritsch. Wien-Köln-Graz, 1987. 342-343.

(24) Ebenda, 343.

(25) Ebenda.

(26) Ebenda, 344.

(27) Ebenda, 344-345.

(28) Wir weisen nur darauf hin, dass in dieser Beurteilung des modernistischen Phänomens Blei in der unmittelbaren Nähe zu Hermann Brochs HOFMANNSTHAL-Essay steht und allein schon diese Nähe einen Anlass zu weiteren Analysen abgibt.

(29) Ebenda, 349.

(30) Ebenda, 350.


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