Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Seelische Beheimatung und Drang zur Flucht
bei Joseph Roth

Gertrude Durusoy (Izmir)
[BIO]

 

Betrachtet man das epische Werk Joseph Roths, so kann man sich nur der Aussage Gershon Shakeds anschließen, wenn er sagt: "Der Dichter Roth ist in drei Kulturen zu Hause: in erster Linie in der deutschen Sprache und Literatur. Man darf nicht vergessen, dass Deutsch Roths stilistischer Code war und sein Zielpublikum das mit diesem Code vertraute. Das zweite Element ist die jüdische Kultur mit ihren volkstümlichen und kulturellen Ausläufern ins Jiddische und Hebräische. Die Welt der Symbole, auf die der Verfasser sich bezieht, ist ursprünglich nicht deutsch geschrieben, sondern hebräisch, aramäisch oder jiddisch ... Die slawische Welt dient als Schauplatz für einen Grossteil des Geschehens in Roths Werk."(1) Auch David Bronsen bringt sehr oft die Tatsache zum Ausdruck, dass die Heimat - das Brody der Kindheit Roths - "ihm mit all seinen Eigentümlichkeiten das Milieu, die Atmosphäre und die Gestalten für einige seiner wichtigsten Werke"(2) lieferte. Die geistige Haltung Roths, als er beschliesst, den Roman "Erdbeeren" zu schreiben, wurde am besten wiederum durch Bronsen erkannt: "Zu seinem Geburtsort Brody war er im Geiste zurückgekehrt, um von dorther einen Ort anzuvisieren, wo es niemandem schwer fällt, zu leben."(3)

Damit komme ich zur Frage der seelischen Beheimatung bei Joseph Roth. Denn äußerlich verfügt zwar Roth nach Galizien, Wien und Deutschland über eine "Wahlheimat", wie es Wolfgang Müller-Funk ausdrückt: "… zu einem Zeitpunkt, als noch die wenigsten deutschen Autoren ans Exil gedacht haben, hat Roth eine Wahlheimat in Frankreich gefunden, dem Land der "weißen Städte", dem Land mit der Hauptstadt Paris."(4) Er hat aber auch die Spaltung in Joseph Roths Wesen erkannt, als er Folgendes behauptet: "Roths Werk zeugt von einer elementaren Heimatlosigkeit und Fremderfahrung, das betrifft auch die nationale und kulturelle Identität."(5)

Anhand seines literarischen Œuvres werden wir versuchen zu zeigen, dass seelisch bzw. innerlich bei Joseph Roth nicht nur eine Heimat vorhanden ist, sondern ein Prozess der Beheimatung stattfindet, während nach außen trotz längerer Aufenthalte der Drang zur Flucht sich dominierend auswirkt. Das, was wir unter geistiger Heimat verstehen, wurde schon durch Stefan H. Kaszynski angedeutet, als er die literarische Heimat Joseph Roths bezeichnet:

Galizien bleibt unbezweifelt die literarische Heimat von Roth, wobei man unter literarischer Heimat nicht ausschließlich die geographischen Orte der Herkunft des Schriftstellers, sondern auch die in seinem Bewußtsein verschlüsselten Bezüge zur Landschaft, Tradition, zu Menschen, zur Denk- und Erzählweise verstehen soll.(6)

Was bedeutet eigentlich Heimat? Welcher Bezug ist es, demnach der Mensch eine Gebundenheit im Sinne der Frankfurter Vorlesungen Heinrich Bölls erlebt? Handelt es sich bei Roth nur um eine Denk- und Erzählweise oder nur um die Landschaft seiner Kindheit und Jugend , um Menschentypen aus Galizien, die er in der Fremde - hauptsächlich in Paris - als Träger der Handlung seiner Romane einsetzt? Bereits 1991 hatte ich die Frage der Entwurzelung bei Joseph Roth in seinem Roman Das falsche Gewicht zur Diskussion gestellt und damals festgestellt, dass "… die erste Konsequenz der geographischen, gesellschaftlichen und innerlichen Entwurzelung und Desorientierung"(7) die Einsamkeit sei, die Vereinsamung innerhalb der Umwelt. Roth drückt es im Roman explizit aus : "Sehr einsam war er, und er fühlte sich fremd und heimatlos…"(8) In diesem Zusammenhang geht die Deutung Müller-Funks noch einen Schritt weiter, indem er behauptet: "Diese Entwurzelung, Quell sowohl von Leid als auch von Freiheitsgefühlen, Kennzeichen vieler Rothschen Helden, ist mit dem Verlust selbstverständlichen Daseins verbunden, mit dem Zweifel an der eigenen Identität." (9)

Einen neuen Blickwinkel liefert in dieser Hinsicht auch Joachim Reibers in seinem Aufsatz Ein Mann sucht sein Vaterland: "Roths Streben nach Identifikation wird geleitet vom ästhetischen Reiz. Der schöne Schein, die wirkungsvolle Form, in der sich eine Gemeinschaft zu präsentieren versteht, fesseln ihn und stimulieren den Wunsch nach Zugehörigkeit."(10) Auf diesen Zug wollen wir aber hier nicht eingehen und uns der knappen Formulierung Sidney Rosenfelds anschliessen, als er schreibt: "A Jew from Habsburg Galicia, with family and emotional ties to the now lost world of Ostjuden, he assimilated as an Austrian of German culture and became a master stylist of German journalistic and narrative prose."(11) Diese Vielseitigkeit ist es, die ihn zwingt, irgendwo heimisch zu werden, obwohl er - wie seine Figuren - häufig "auf Wanderschaft" gewesen ist.

Paris als äußeren Raum für sein weiteres Leben sieht Roth nach der Auffassung von Jacqueline Bel wie folgt:

Depuis qu’il a quitté la Galicie, son pays natal, Joseph Roth erre de capitale en capitale… La mentalité des pays latins enchante le citoyen d’Europe orientale qui a vécu l’effondrement de la monarchie austro-hongroise, qui a perdu sa patrie et qui se méfie de l’évolution politique de l’Allemagne.(12)

Paris bietet den Raum für Handlungen bzw. Teilhandlungen vieler Romane Roths, nicht zuletzt für die Legende des heiligen Trinkers. Hugo Dittberner hat schon 1982 einen typischen Charakterzug Rothscher Helden festgestellt, indem er schrieb: "Ziellosigkeit, mitbedingt durch das häufige Thema der Flucht, der Suche, der Reise, des unruhigen Ortwechsels überhaupt, und andererseits aber auch eine träumerische Sicherheit, die dem Thema der Schicksalserfüllung korrespondiert."(13) Deshalb kennzeichnet er sie in einer sehr gerafften Form: "Die Erzählwelt Roths ist voller Auswanderer, Fliehender, in den Krieg Ziehender, Umhergetriebener."(14)

Die enge Verbindung von Leben und literarischem Werk bei Roth hatte schon 1977 Hermann Kesten erkannt, indem er schrieb:

So hat sich Roth in seinem epischen Werk eine verlorene Heimat wieder geschaffen, etwa jenes in jedem Detail so lebenswahre, lebensträchtige Österreich-Ungarn, …, so bevölkerte er mit dem Personal seines Lebens seine Romane und Geschichten und lebte auch mit seinen erfundenen Figuren wiederum, als wären sie Komparsen seines eigenen Lebens.(15)

Damit wird klar, dass für den Autor Roth der Akt des Schreibens als solcher die eigentliche und einzige Heimat im Kontext seines Lebens bedeutet. Nur beim Schreiben ist er in "seiner" Welt, fühlt sich geborgen wie in der Landschaft und Umgebung seiner galizischen Kindheit.

Unter den vielen Prosawerken Joseph Roths wurden zur Exemplifizierung der auf dem ersten Blick gegensätzlich wirkenden beiden Aspekte der seelischen Beheimatung sowie des Dranges zur Flucht ein Roman, Die Flucht ohne Ende und eine Erzählung Der Leviathan herangezogen. Der Roman Die Flucht ohne Ende ist 1927 entstanden.(16) Schon der Titel zeugt von einer konkreten Flucht und zwar handelt es sich um den Ausschnitt aus dem Leben des österreichischen Oberleutnants Franz Tunda, das ihn von Land zu Land führt, aus der sibirischen Taiga bis nach Paris. Schon auf der dritten Seite des Romans kennzeichnet Joseph Roth seinen Helden einerseits als Teilstück eines Ganzen: "Die österreichisch-ungarische Monarchie war zerfallen. Er hatte keine Heimat mehr." (S.9) und andererseits als einen Mann, der keinen Bezug mehr zur Umwelt besitzt: "Jetzt aber war Franz Tunda ein junger Mann ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Rang, ohne Titel, ohne Geld und ohne Beruf, heimatlos und rechtlos." (S.10) Dies ist die seelische und äußerliche Lage, die Tunda im Frühling 1919 nach seiner dreijährigen russischen Gefangenschaft aufweist.

Das Bild seiner Braut Irene bedeutet ihm Wien und Geborgenheit; seine Gefühle aber waren gemischt. Es heißt: "Er liebte sie doppelt: als ein Ziel und als eine Verlorene." (S.11) Mit seinem "falschen Dokument auf den Namen Baranowicz" (S.7) hatte er sich auf den Weg gemacht und stieß in die Revolution. Seine Verliebtheit in Natascha Alexandrowna hielt ihn lange auf: "Er kämpfte in der Ukraine und an der Wolga, er zog in die Berge des Kaukasus und marschierte zurück an den Ural." (S.23) In Moskau lernt Tunda seine "zweite Liebe kennen" (S.30) und zwar ein Mädchen namens Alja, "Tochter eines Grusiniers und einer Tattin" (S.29). Mit ihr zieht er nach Baku, um dort "Filmaufnahmen für ein wissenschaftliches Institut" (S.35) zu machen. In dieser Periode seines Lebens stellt er sich keine wesentlichen Fragen und dadurch schildert ihn Roth wie folgt: "… zufriedener Beamter, verheiratet mit einer schweigsamen Frau, wohnhaft in Baku. Vielleicht kamen zu ihm seine Heimat und sein früheres Leben manchmal im Traum." (S.35)

Das Treffen mit einem französischen Ehepaar in Baku erweckt in Tunda den Drang zur Flucht. Er versucht, über das österreichische Konsulat in Moskau als verspäteter Heimkehrer nach Wien zu gelangen. Dort begann er in ärmlichen Verhältnissen zu leben, "… bezog Arbeitslosenunterstützung… Man erzählte ihm, dass seine Braut geheiratet hatte und wahrscheinlich in Paris lebte." (S.49) Tunda erkennt seine Lage, indem er an Joseph Roth schreibt: "Ein Wind treibt mich, und ich fürchte nicht den Untergang… - ich glaube, dass ich sehr fremd in dieser Welt geworden bin." - (S.50) Wien, die eigentliche Heimat des ehemaligen Oberleutnants, sieht er nicht mehr als Heimat an; dort, wo Tunda sich wohl und geborgen fühlen sollte, dort ist er zum Fremden geworden. Die rhetorische Frage "Du fragst, ob ich in Russland heimisch war?" (S.51) wird im Roman folgenderweise beantwortet:

Ich wäre dennoch in Rußland geblieben… , wenn nicht eines Tages eine Gesellschaft aus Frankreich gekommen wäre… Es war, als hätte jemand eine Tür geöffnet, von der ich die ganze Zeit gedacht hatte, sie wäre keine Tür, sondern ein Teil der Mauer, die mich umgab. Ich sah einen Ausgang und ich benutzte ihn. Jetzt stehe ich draußen und bin allerdings ratlos. (S.53)

Paradoxalerweise erlebt Tunda in seiner geographischen Heimat die tiefste Entwurzelung und Einsamkeit. Von der Welt, die er in Wien vorfindet, sagt er: "Ich fühle mich fremd in ihr… Ich gehe mit fremden Augen, fremden Ohren, fremdem Verstand an den Menschen vorbei." (S.53/54) Dies bezeugt, dass Joseph Roth persönlich der Auffassung ist, dass ein Ort auf der Landkarte, auch wenn man ihn wie sein Held Franz Tunda seit der Kindheit her kennt, seelisch nicht die Heimat bedeutet und dass deshalb wiederum der Drang zur Flucht entsteht, denn im Ortswechsel steckt die Hoffnung, ein Milieu, eine Atmosphäre zu finden, die eine Beheimatung ermöglichen würden.

Aus finanziellen Gründen entscheidet sich Tunda, seinen "in einer mittelgroßen deutschen Stadt" (S.56) am Rhein lebenden Bruder Georg zu besuchen. Schon im Zug bekennt er sich zu einer Gegend, in der er sich wohl gefühlt hatte. Es heißt: "'Es wohnen auch in Sibirien saubere Menschen', meinte Tunda. 'Sie scheinen ja das Land sehr zu lieben?' fragte der Herr ironisch. 'Ich liebe es', gestand Tunda." (S.65) Bei einem "kleinen Sonntagsfest" (S.74) im Hause seines Bruders kommt Tunda ins Gespräch mit einem Fabrikanten, der in Russland Konzessionen hatte und dadurch auf die neuesten Informationen sehr bedacht war. In Tunda fand er aber nicht den gewünschten Gesprächspartner, denn der letztere sagt zu ihm: "Begreifen Sie denn nicht, dass es mir gar nicht wichtig erscheint, wieviel Petroleum in Baku gewonnen wird? Es ist eine wunderbare Stadt. Wenn sich ein Wind in Baku erhebt - " (S.75).

Die Atmosphäre eines Ortes, sein Einfluss auf das Gemüt des Betroffenen spielen in Roths Romanen eine sehr wichtige Rolle im Leben des Helden, so dass eine Erinnerung ausreicht, um ihn in einen den anderen fremden ihm aber heimischen Punkt zu versetzen. Diese Erinnerung dient als Katalysator für das Gewinnen, das Herstellen der seelischen Heimat. Auch seine Beziehung zur ehemaligen Braut löst Handlungen aus, die Tunda erst nach Berlin, wo "seine sibirischen Erfindungen" (S.93) in einem großen Verlag erschienen sind, dann nach Paris führen. Diese letztere Stadt beschäftigt ihn, lässt ihn Bekannte treffen; sogar seiner ehemaligen Braut begegnet er auf der Straße, ohne von ihr erkannt zu werden.

Roth beendet den Roman mit den Worten:

… da stand mein Freund Tunda, 32 Jahre alt, gesund und frisch, starker Mann von allerhand Talenten, auf dem Platz vor der Madeleine, inmitten der Hauptstadt der Welt und wußte nicht, was er machen sollte. Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt. (S.133)

Bei der Figur Franz Tunda erkennt man nicht nur die Labilität eines Charakters sondern die "große Leere im Herzen" (S.120) eines Menschen, der sich entscheidet, den Rest seines Lebens in Paris zu verbringen: "Hier, so schien es ihm, war sein Platz und sein Untergang." (S.133) Dieser 1927 geschriebene Satz wirkt nun als auktorialer Eingriff, wenn man bedenkt, dass Roth selbst einige Jahre später denselben Beschluss fassen wird. Paris wird ihm zur Wohn- und Grabstätte. Andererseits heißt es vom Helden, dass seine Frau von Baku in die Taiga zum echten Baranowicz gefahren ist, um dort auf ihren Mann zu warten, denn sie habe keine anderen Verwandten mehr als diesen Bruder. Die stille Alja des Romans deutet sehr stark auf Roths Frau Friedl hin. Géza von Cziffra erzählt in seinen Erinnerungen an Roth, wie Marcuse das Paar schildert:

Die Menschen sieht er nicht so, wie sie sind, sondern so, wie er sie haben möchte. Besonders die, die er mag… Er liebt seine Frau ehrlich, aber er leidet darunter, daß sie an Kunst und Literatur uninteressiert ist,… daß sie, wenn er sie mal ausnahmsweise in eine Gesellschaft mitnimmt, stumm dasitzt und wenn man eine Frage an sie richtet, höchstens mit einem "O ja" oder "O nein" antwortet.(17)

Die seelische Einsamkeit Joseph Roths, die Unmöglichkeit sich mit der eigenen Frau über den Hauptinhalt seines Lebens, seine Dichtung, zu unterhalten, was später durch die Nervenerkrankungen seiner Frau ganz ausgeschlossen sein wird, diese Parallele zur Figur der stillen Alja des Romans bezeugt das Bedürfnis nach einer seelischen Beheimatung und erklärt z.T. den aufkommenden Drang zur Flucht als Ausdruck einer inneren Unruhe, die weder Familie noch Gesellschaft, noch Heimat im geläufigen Sinne, befriedigen konnten. Der heimatlose Franz Tunda und Joseph Roth sind aufs engste verwandt; sie haben Europa von Osten nach Westen bereist und entscheiden sich für Paris als letzten Lebensort. Ob diese Wahlheimat ihrer Seele zu einem Halt wird?

Ganz anders benimmt sich der Held des Leviathan in der posthum erschienenen Erzählung Roths.(18) Der Korallenhändler Nissen Piczenik betrachtete seine Korallen nicht als eine Ware, deshalb benutzte er für seinen Handel auch keinen Laden:

Er betrieb das Geschäft in seiner Wohnung, das heißt: er lebte mit den Korallen, Tag und Nacht, Sommer und Winter, und da in seiner Stube wie in seiner Küche die Fenster in den Hof gingen und obendrein von dichten eisernen Gittern geschützt waren, herrschte in dieser Wohnung eine schöne geheimnisvolle Dämmerung, die an Meeresgrund erinnerte, und es war, als wüchsen dort die Korallen, und nicht als würden sie gehandelt. (S.169)

Es heißt sogar im Text: "Es war, als schüfe oder pflanzte und pflückte er selbst die Korallen, mit denen er handelte." (S.170)

Meines Erachtens ist die obige Textstelle für die Schilderung der innerlichen Heimat, besser gesagt der seelischen Beheimatung Piczeniks von grosser Bedeutung. Damit das Bild vollständig wird, muss man die Figur des Leviathan hinzufügen. Roth gibt erst die Funktion dieses Meereswesens an: "Dem Leviathan aber, der sich auf dem Urgrund aller Wasser ringelte, hatte Gott selbst für eine Zeitlang, bis zur Ankunft des Messias nämlich, die Verwaltung über die Tiere und die Gewächse des Ozeans, insbesondere über die Korallen, anvertraut." (S.171) Nissen Piczenik schafft sich eine innere Welt, die ihn zwar seinen Alltag leben lässt, ihn aber gleichzeitig von der Umwelt des "kleinen Städtchens Progrody" (S.168) isoliert. Seine "familiäre Zärtlichkeit für Korallen" und seine "eigene, ganz besondere Theorie von den Korallen" (S.170) macht aus ihm einen Sonderling. Da ihm seine Frau keine Kinder gebar, waren ihm nur die Korallen wichtig. Roth schreibt sogar: "Er liebte die Korallen. Und ein unbestimmtes Heimweh war in seinem Herzen, er hätte sich nicht getraut, es bei Namen zu nennen: Nissen Piczenik, geboren und aufgewachsen mitten im tiefsten Kontinent, sehnte sich nach dem Meere." (S.172) Damit wird seine Vereinsamung immer tiefer und die Welt seiner Phantasie beansprucht immer mehr Zeit in seinem Leben. Roth schildert diese Lage in der Erzählung mit der Präzision eines Psychologen: "Weit und breit gab es keinen Menschen, mit dem er von seiner Sehnsucht hätte sprechen können, in sich verschlossen mußte er es tragen, wie die See die Korallen trug." (S.172)

In unserer Untersuchung von Piczenik sind folgende zwei Elemente besonders ausschlaggebend: einerseits das Bedürfnis durch die Welt der Korallen und des Leviathan seelisch beheimatet zu sein zu befriedigen und andererseits der Ansatz zur Flucht durch die Anziehungskraft des Meeres und die Bindungslosigkeit zur Umwelt.

Nicht das Städtchen Progrody mit seinen Sümpfen ringsherum bildet die Heimat des Nissen Piczenik - innerlich betrachtet - sondern die Welt des Wassers, des Meeres, das er nie gesehen hatte. Diese fiktive Welt trägt er mit sich herum:

Er träumte manchmal davon, daß das große Meer - er wußte nicht welches, er hatte niemals eine Landkarte gesehen, und alle Meere der Welt waren für ihn einfach: das große Meer - eines Tages Rußland überschwemmen würde, und zwar just jene Hälfte, auf der er lebte. Dann wäre also die See, zu der er niemals zu gelangen hoffte, zu ihm gekommen, die gewaltige unbekannte See mit dem unmeßbaren Leviathan auf ihrem Grunde und mit all ihren süssen und herben und salzigen Geheimnissen. (S.172/173)

Der auktoriale Eingriff zeigt sehr deutlich diese Problematik der Haupfigur: "Im Städtchen Progrody aber wusste kein Mensch, was alles sich in der Seele des Korallenhändlers abspielte." (S.173) Nissen Piczenik zählt zu den typischsten Figuren der Erzählprosa Joseph Roths in Hinsicht auf das Schöpfen einer seelischen Heimat, einer innerlichen Welt, wo der Mensch sich wohl fühlt, sich zu Hause fühlt, kurzum beheimatet ist. Durch das Imaginäre versucht Piczenik mit dem Meer eins zu werden; und zwar wird es keine Meeresüberschwemmung in Progrody geben, aber Piczenik ertrinkt mit mehr als zweihundert Passagieren des Dampfers "Phönix" im Ozean. Roths Kommentar am Ende des Romans ist besonders relevant: "Was aber Nissen Piczenik betrifft, der ebenfalls damals unterging, so kann man nicht sagen, er sei einfach ertrunken wie die anderen. Er war vielmehr - dies kann man mit gutem Gewissen erzählen - zu den Korallen heimgekehrt, auf den Grund des Ozeans, wo der gewaltige Leviathan sich ringelt." (S.196) Und Roth fügt hinzu: "… ich bürge dafür, daß er zu den Korallen gehört hat und daß der Grund des Ozeans seine einzige Heimat war." (S.196) Deutlicher kann man es wohl nicht ausdrücken.

Im Laufe der Erzählung hatte Roth den jungen Komrower als Matrosen auf Urlaub erscheinen lassen; die Anwesenheit dieses jungen Menschen vom Meer hatte bei Piczenik alle verborgenen Wünsche und Träume plötzlich ins Rampenlicht gerückt. Er verwendet psychoanalytische Kenntnisse, indem er anscheinend wie nebenbei Folgendes feststellt:

Dennoch gestand er sich, daß er eigentlich selber nicht wußte, warum und wozu er hier in der Schenke mit dem Matrosen und den unheimlichen Gesellen saß. Hatte er doch sein ganzes Leben regelmässig und unauffällig verbracht, und seine geheimnisvolle Liebe zu den Korallen und ihrer Heimat, dem Ozean, war bis zur Ankunft des Matrosen und eigentlich bis zu dieser Stunde niemandem und niemals offenbar geworden. Und es ereignete sich noch etwas, was Nissen Piczenik aufs tiefste erschreckte. Er, der keineswegs gewohnt war, in Bildern zu denken, erlebte in dieser Stunde die Vorstellung, daß seine geheime Sehnsucht nach den Wassern und allem, was auf und unter ihnen lebte und geschah, auf einmal an die Oberfläche seines eigenen Lebens gelangte, wie zuweilen ein kostbares und seltsames Tier, gewohnt und heimisch auf dem Grunde des Meeres, aus unbekanntem Grunde an die Oberfläche emporschießt. (S.177/178)

Roth rundet seine psychologische Vision mit folgendem Satz ab: "Diese Verwunderung und dieser Schrecken aber vollzogen sich gleichsam unter der Oberfläche seines Bewußtseins." (S.178) Eine eingehende Kenntnis der menschlichen Psyche ist hier zu beobachten. Es werden nicht nur die verschiedenen Schichten des Bewusstseins geschildert, sondern das konkrete Erlebnis einer Vision, einer Sehnsucht.

Wie entsteht nun der Drang zur Flucht, wenn Piczenik eine geistige Heimat bei den Korallen und bei der Vorstellung des Ozeans mit dem Leviathan gefunden hat? Die bevorstehende Abreise des jungen Matrosen bringt den Helden auf den Gedanken, auch nach Odessa zu fahren, um das Meer endlich zu erblicken. Roth schildert wiederum diesen plötzlichen und unwiderstehlichen Drang mit einer subtilen psychologischen Bemerkung:

Solch ein Wunsch kommt plötzlich, ein gewöhnlicher Blitz ist nichts dagegen, und er trifft genau den Ort, von dem er gekommen ist, nämlich das menschliche Herz. Er schlägt sozusagen in seinem eigenen Geburtsort ein. Also war auch der Wunsch Nissen Piczeniks. Und es ist kein weiter Weg von solch einem Wunsch bis zu seinem Entschluß. (S.182)

Roth bemerkt, dass im Wesen Piczeniks keine Spur von Widerspruch vorhanden sei: "Im Innern Nissen Piczeniks aber jubelte gleichzeitig eine fremde und dennoch wohlvertraute Stimme: Piczenik geht zu den Korallen! Er geht zu den Korallen! In die Heimat der Korallen geht Nissen Piczenik!…" (S.183)

Im Wesen Piczeniks bedeutet die Ankunft in Odessa nach der Reise mit dem Zug neben dem jungen Komrower eine vollkommene Verwandlung. In der Erzählung heißt es:

Er verwunderte sich selbst über seine Kühnheit. Ach ja: es war nicht mehr der alte kontinentale Nissen Piczenik, der da mit einem bewaffneten Matrosen sprach, es war nicht der Nissen Piczenik aus dem kontinentalen Progrody, sondern ein ganz neuer Mann, so etwa wie ein Mensch, dessen Inneres nach außen gestülpt worden war, ein sozusagen gewendeter Mensch, ein ozeanischer Nissen Piczenik ... So vertraut war er mit dem Wasser, wie er niemals mit seinem Geburts- und Wohnort Progrody vertraut gewesen war. (S.185)

Auch diese Zeilen zeugen von der eigentlichen und imaginären bzw. innerlichen Heimat des Helden. Obwohl er nur das Meer sehen wollte, verbleibt er drei Wochen in Odessa, bevor er in sein Städtchen zurückkehrt. Die Episode mit den falschen Korallen des Lakatos hat keinen direkten Bezug zur seelischen Beheimatung, so dass sie hier ausgespart werden wird. Sie trägt vielleicht nur dazu bei, den Wunsch nach Flucht zu bestätigen, denn das Geschäft der gemischten und falschen Korallen, das nun Piczenik selbst auch betreibt, geht ein. Nach dem Tode seiner Frau heißt es: "Einsam fühlte er sich nicht , sobald er mit den Korallen allein war. Und ihn bekümmerte lediglich die Tatsache, dass er sie verraten hatte, an die falschen Schwestern, die Korallen aus Zelluloid…" (S.193) Dieses Leben mit den falschen Korallen und weit vom Meer weg erträgt er nicht mehr. "Er spürte… Nicht Progrody, der Ozean war seine Heimat. Also faßte er eines Tages den tödlichen Entschluß seines Lebens." (S.195) Er beschließt, nach Kanada auszuwandern und, wie schon erwähnt, ertrinkt er samt allen Passagieren des Dampfers vier Tage nach der Abfahrt von Hamburg.

Im Falle Nissen Piczenik handelt es sich weder um eine geographische noch um eine historische Heimat. Der Ort Progrody, der selbstverständlich durch seinen slawischen Klang an den Geburtsort Roths, an Brody, erinnert, dient aber nur als Rahmen für die innere Entwicklung des Helden, der sich durch die Korallen, die er verkauft, in den Ozean versetzt und dort seine eigentliche Heimat sieht. Der Drang zur Flucht aus dem kontinentalen Progrody scheint deshalb als etwas tief Ersehntes, weil nur ein Verlassen dieses Ortes den Kontakt mit dem Wasser ermöglicht, weil nur eine Fahrt über den Ozean also nach Amerika bzw. Kanada das große Meer erleben lässt und vielleicht einen Einblick in das Leben der Korallen mit dem Leviathan bieten wird. Die innere Welt Piczeniks, seine Phantasie lassen ihn konkrete Handlungen in der äußeren Welt durchführen. Eheleben und Geschäft sowie Verrichtungen seiner Religion haben nicht die Hauptwerte in seinem Leben dargestellt. Seine Weltanschauung orientiert sich nach dem Wasser, nach der Korallewelt, die er nie erblickt hatte, von denen er nur geträumt hatte bis zum Tage, wo er der Sache auf den Grund gehen will, das Geheimnis zu erforschen und damit zur Erkenntnis zu gelangen. Die metaphysische Dimension dieser Erzählung ist nicht zu leugnen.

Bevor ich schließe, möchte ich noch eine andere Figur aus dem epischen Werk Joseph Roths erwähnen und zwar Mendel Singer aus dem Roman namens Hiob.(19) Hier will ich nicht alle textimmanenten Belege anführen, die zu der heute untersuchten Thematik gehören. Ich möchte nur auf die Form von seelischer Beheimatung des Helden eingehen, die wie immer den Drang zur Flucht, zum Ausbruch in sich trägt. Mendel Singer ist ein Jude, der in Treue zu seinem Glauben und zu seinem Gott leben möchte. Roth charakterisiert ihn sehr knapp: "Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch." (S.8) Er ist der Gerechte, der innerlich in der Religion beheimatet ist. Wie die Hiob-Figur der Bibel wird Mendel Singer geprüft; die erste Probe heißt Menuchim: sein viertes Kind ist ein Krüppel. Mendel und Deborah wandern nach Amerika aus, nicht weil sie eine neue Heimat suchen oder etwa brauchen, sondern weil ein Sohn schon dort ist und weil der Vater hofft, die Tochter dort moralisch zu retten. Menuchim wird bei Nachbarn in Russland zurückgelassen, in der Hoffnung, ihn später auch nach Amerika bringen zu können. Diese Fahrt ist eine Flucht vor dem Zerfall der Werte der damaligen Gesellschaft. In Amerika versucht Mendel Singer sich seine geistige Heimat wieder aufzubauen d.h. die Gebräuche seines Glaubens weiter auszuüben sowie die Gebete in einer Gemeinschaft zu verrichten. Die Frau stirbt, die Tochter wird in eine Anstalt geliefert, die ersten beiden Söhne sind tot, von Menuchim ist keine Nachricht. Am Tiefpunkt der Hoffnungslosigkeit angelangt, revoltiert er gegen seinen Gott. Er sagt seinen Glaubensbrüdern: "Gott will ich verbrennen" (S.164). Da liegt sein Drang zur Flucht, der Flucht vor Gott. Das Ringen Mendel Singers mit Gott nimmt nur mit der Ankunft Menuchims, der inzwischen ein berühmter Musiker geworden war, ein Ende. Seine Umgebung deutet diese Ankunft als ein Wunder und er selbst gewinnt seinen inneren Frieden, seine seelische Heimat zurück. So lebt er versöhnt mit Gott bis zu seinem Tode.

Sei es Franz Tunda, Anselm Eibenschütz, Nissen Piczenik oder Mendel Singer, um nur einige der Helden zu nennen, so steht meiner Meinung nach fest, dass Joseph Roth immer auf verschiedene Weise zeigt, dass der Mensch irgendwo Wurzeln schlagen muss, sei es örtlich oder geistig. Ein jeder Held verfügt über seine innere Heimat, wie der Autor selbst, und der Drang zur Flucht setzt in dem Augenblick ein, wo alles Gegenwärtige der inneren Sehnsucht nicht mehr entspricht. Die Flucht kann eine räumliche oder eine seelische sein; das Ziel dabei ist wiederum eine geborgene innere Heimat. Mit Recht wurde - literaturhistorisch gesehen - Joseph Roth von Arthur Zimmermann in Bezug auf die Zeit folgendermaßen charakterisiert: er lebe nicht mehr "in der ostgalizischen Vergangenheit, und in der Gegenwart hat er sich noch nicht eingefunden."(20)

© Gertrude Durusoy (Izmir)

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Anmerkungen:

(1) Gershon Shaked: Kulturangst und die Sehnsucht nach dem Tode. Joseph Roths "Der Leviathan" - die intertextuelle Mythisierung der Kleinstadtgeschichte. in: Michael Kessler, Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth. Interpretation. Rezeption. Kritik. Tübingen,1990. S. 279.

(2) David Bronsen: Zum "Erdbeeren"-Fragment. Joseph Roths geplanter Roman über die galizische Heimat. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Joseph Roth. Sonderband edition text + kritik. München, 1982. S. 122.

(3) Ebd. S. 127. Siehe auch: Maria Klanska: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths. In: Michael Kessler, Fritz Hackert (Hrsg.) op.cit. S. 143-156.

(4) Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München, 1989. S. 14.

(5) Ebd. S. 14.

(6) Stefan Kaszynski: Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk von Joseph Roth. In: Literatur und Kritik. Nr. 243/244. April/Mai 1990. S. 137.

(7) Gertrude Durusoy: Die Entwurzelung Joseph Roths anhand seines Romans "Das falsche Gewicht". In: Ege Bati Dilleri ve Edebiyati Dergisi. Bd.8, 1991. S. 97.

(8) Joseph Roth: Das falsche Gewicht. Köln, 1977. S.16.

(9) Wolfgang Müller-Funk: op.cit. S. 22.

(10) Joachim Reiber: Ein Mann sucht sein Vaterland. Zur Entwicklung des Österreichbildes bei Joseph Roth. In: Literatur und Kritik. Nr.243/244, 1990. S. 106.

(11) Sidney Rosenfeld: Joseph Roth’s Hiob. In: Austriaca Nr.30, juin 1990. S. 25.

(12) Jacqueline Bel: Plaidoyer pour l’Europe. In: Austriaca Nr.30, 1990. S. 70.

(13) Hugo Dittberner: Über Joseph Roth. In : Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Joseph Roth. Sonderband edition text + kritik . München, 1982. S. 23.

(14) Ebd. S. 23.

(15) Hermann Kesten: Die Erzählungen von Joseph Roth. Als Nachwort zu: Joseph Roth: Der Leviathan. München,1977. S. 202.

(16) Hier wurde die Ausgabe Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. München 1988, 6.Aufl. verwendet, nach  der auch die Zitate im laufenden Text angegeben werden.

(17) Géza von Cziffra: Der heilige Trinker. Erinnerungen an Joseph Roth. Frankfurt/M.1989. S. 25.

(18) Joseph Roth: Der Leviathan. Erzählungen. München, 1977. 2.Aufl. In der Folge wird im laufenden Text nach dieser Ausgabe zitiert.

(19) Joseph Roth: Hiob. Köln, 1982. Auch hier werden die Zitate im laufenden Text nach dieser Ausgabe angegeben.

(20) Arthur Zimmermann: Der unbehauste Grenzgänger. NZZ, 7/8 März 1992. S. 70.


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