Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 6. Nr. September 1998

Programm der Konferenz


Sektionsberichte der Konferenz:
Kulturwissenschaften, Datenbanken und Europa (29.9.-3.10.1998 in Debrecen)

Sektion I: Forschungen zur österreichischen Literatur, Texte und Datenbanken
Sektion II: Kulturwissenschaftliche Konzeptionen und europäische Prozesse
Sektion III: Wissenschaft und Informationssysteme - nationale Sammlungen und grenzüberschreitende Analysen
Sektion IV: Internationalisierung, Forschungseinrichtungen, Universitäten, Forschung und Ausbildung
Sektion V: Kulturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen und Universitäten im Internet
Sektion VI: International Science Communication, Zeichen, Sprache, Begriffe, Formen
Sektion VII: Wissenschaft und Internet: Möglichkeit und Grenzen der Nutzung
Sektion VIII: Wissenschaft, Hard- und Softwareindustrien, EU, Unesco
Sektion IX: "Wissenschaftliche Darstellungen, Auktorialität, Transdisziplinarität und Internet"
Sektion X: Kulturwissenschaftliche Forschung und gesellschaftliche Umsetzung


Sektion I: Forschungen zur österreichischen Literatur, Texte und Datenbanken

Bericht: Alexandr W. Belobratow

In der Sektion hätten 9 Referate gehalten werden sollen. Zwei davon (Methlagl, Szendi) wurden abgesagt, eines (Edith Kovacs) wurde auf persönlichen Wunsch der Referentin in einer anderen Sektion gehalten. Zusätzlich zu den auf dem Programm stehenden Referaten hielt Richard Reuthner (Debrecen) einen Vortrag.

Kurz zu den einzelnen Referaten:
Alexandr Belobratow (St. Petersburg) sprach über das Problem der Erweiterung und die Präzisierung des Konzepts der Interkulturalität in den Forschungen der In- und Auslandsgermanisten, über die Theorie der Interkulturalität und ihre Anwendung zur Erforschung der österreichischen Literatur. Als eine unentbehrliche pragmatische Basis dafür wurden Datenbanken zur österreichischen Literatur und ihre Aufnahme in Rußland inhaltlich und strukturell kurz präsentiert.
András Balogh (Budapest) stellte das Projekt "Jahrbuch der ungarischen Germanistik" und die dieses Projekt begleitenden Datenbanken zu den ungarischen Forschungen über österreichische Literatur dar.
Richard Reuthner (Debrecen) konnte in seinem Referat "Karl Meisls Auber-Parodien. Ein Beitrag zur Geschichte der Wiener Opernparodien im Vormärz" sowohl die wichtigsten Personen- und Werkangaben aus dem Bereich des Wiener literarischen und Theaterlebens ("Volksstück"-Autoren) zusammenfassend darstellen, als auch einige Modelle des parodistischen Umgangs mit den Pre-Texten analysieren.
Nikolina Burneva (Veliko Tirnovo) stellte eine Datenbank vor, die die bulgarische Erforschung der österreichischen Literatur betrifft und skizzierte die Problematik, die bei der Erarbeitung von Suchmasken zu derartigen Datenbanken entsteht.
Erika Garics (Budapest) beschrieb das Projekt "Canetti-Bibliographie" und die aufgrund dieser Bibliographie erarbeiteten Suchmasken und Datenbanken.
Im Referat von Eszter Kisery (Debrecen) ging es um die wichtigsten Etappen der Stefan-Zweig-Rezeption in Ungarn bis 1942 und die Vorbereitung einer entsprechenden Datensammlung.
Mariana Lazarescu (Bukarest) sprach über die Aufnahme von Hofmannsthals Werk in Rumänien und die bio-bibliographische Datensammlung zum Thema "österreichische Literatur der Jahrhundertwende in Rumänien".

In der anschließenden Diskussion wurden unter anderem folgende Problemkomplexe besprochen:

Es zeichnete sich die Tendenz ab, gemeinsam gegen bestehende Rezeptionsklischees zu arbeiten. Weiters zeigte sich die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Beobachtung von Kontextbeziehungen und transnationalen Kulturprozessen.

Daß die elektronische Form von Bibliographien viel effizienter ist, ist schon zu einem Gemeinplatz geworden. Das Problem besteht momentan darin, aus der Diskrepanz zwischen phililogischen Kompetenzen und Interessen einerseits und (meist unzureichenden) technologischen Voraussetzungen andererseits zu einer bequemeren und arbeitsökologischeren Haltung zu kommen.

Es zeigte sich, daß die autodidaktische Aneignung von minimal notwendigen Kenntnissen von Software-Technologien nur stockend vorankommen kann. Daher wird als sinnvoll erachtet, daß die Bemühungen von Germanisten aus mehreren Ländern um die bibliographische Erfassung der Rezeption der österreichischen Literatur durch das Erstellen eines gemeinsamen Makrodesigns nicht nur in der Herstellungsphase zu unterstützen sind, sondern auch im Hinblick auf eine künftige Kompatibilität der länderbezogenen Bibliographie-Produkte.

Von den Vorschlägen zur Zusammenarbeit im Rahmen des INST sind folgende zu erwähnen:

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Sektion II: Kulturwissenschaftliche Konzeptionen und europäische Prozesse

Bericht: Anette Horn

In dieser Sektion wurden folgende Beiträge zur Diskussion gestellt: Das Thema von Otto Kronsteiner aus Salzburg "Vernetzung oder Kurzschluß. Warum wir eine europäische Philologie brauchen statt weiterhin etatistische Nationalphilologien und Nationalhistorien" wurde nur andiskutiert. Darauf schlossen Gabriella Hima aus Debrecen mit ihrem Beitrag  "Wissenschaftliche Darstellungen und Forschung im Zeitalter des Internet" und Anette Horn aus Kapstadt mit dem Thema "Die unschuldigen Intellektuellen: Kanon und Macht" an. Gizela Kurpanik-Malinowska aus Zabrze sprach zum Thema "Deutschsprachige Literatur der 90er Jahre am Germanistischen Lehrstuhl der Pädagogischen Hochschule in Czestochowa - eine Brücke zwischen Polen und Europa". Es folgte der Beitrag von Karl Katschtaler aus Debrecen "Ist der Eurozentrismus wirklich tot?" Zalina Mardanowa aus Alania (Nordossetien) schloß die Sektion mit ihren Ausführungen zum Thema "Multikulturalität der Grenzgänger (aus der Perspektive der österreichischen Gegenwartsliteratur)" ab.

In dem Vortrag von Gabriella Hima wurde untersucht, inwiefern das Konzept einer an ästhetischen Werken orientierten Literaturwissenschaft angesichts der rasanten Entwicklungen der elektronischen Medien am Ende des 20. Jahrhunderts überhaupt noch relevant sei. Es war die Rede von der Ablösung eines homo aestheticus durch einen homo electronicus, der/die auf andere Weise als bisher mit Hilfe von Piktogrammen z.B. transkulturell kommunziere.

In dem folgenden Beitrag von Anette Horn wurde die Rolle des Kanons bei der Festschreibung einer bestimmten Nationalliteratur analysiert. Dabei erwies sich die politische Zweckmäßigkeit eines Autors oder bestimmter Texte als ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als ästhetische Kriterien. Die Nationalphilologien trugen wesentlich zur Konstruktion dieses Kanons bei. Zur Überwindung des nationalen Kanons sollte er nicht durch einen europäischen ersetzt werden, sondern als ein umstrittenes Konstrukt anerkannt werden, dessen Kriterien in einem Dialog zwischen Kulturproduzenten und Konsumenten verschiedener Machtgruppierungen verhandelt werden können. Der Kanon soll aber nicht einer allgemeinen Beliebigkeit weichen, sondern bedarf eines Konsenses.

Gisela Kurpanik-Malinowska betonte in ihrem Beitrag die grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten zwischen den Bürgern der ehemaligen sozialistischen Staaten, insbesondere zwischen Polen und der DDR, anhand eines jungen Schriftstellers aus der ehemaligen DDR, Kurt Drawert. Diese Ähnlichkeiten beruhen auf der gemeinsamen Erfahrung in einem totalitären System. Während diesbezügliche Anspielungen von polnischen LeserInnen verstanden würden, stießen sie auf Unverständnis bei westdeutschen LeserInnen. Damit wurde auf die soziale und politische Dimension der Identitätsfrage aufmerksam gemacht.

Im dem Beitrag von Karl Katschtaler wurde der Eurozentrismus dekonstruiert, der sich selbst noch in eine vermeintliche Annäherung an die fremde Kultur einschleichen kann. Dabei wäre die Verachtung der eigenen Kultur und die Idealisierung der fremden Kultur als Umkehrung des Eurozentrismus genauso problematisch wie dieser selbst. Anhand von Hubert Fichtes Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, die die Lüge und den Widerspruch bewußt einsetzt, um zwischen ihnen die Wahrheit aufblitzen zu lassen, wurde ein möglicher Ausweg aus dieser Sackgasse beschrieben. Dabei wurde auf die Analogie zwischen der Abwehr gegenüber der fremden Kultur und der Ausgrenzung bestimmter Gruppen innerhalb der eigenen Kultur verwiesen, wie z.B. den Juden, Bi- oder Homosexuellen. Ein Hindernis beim Verständnis dieser Zusammenhänge sei der wissenschaftliche Wahrheitsbegriff, der als sprachliches Konstrukt ausgewiesen wurde.

In dem Beitrag von Zalina Mardanowa wurde die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen anhand der Tschetschenen in Rußland diskutiert. Die Vielschichtigkeit der Kulturen läßt sich aber nicht nur anhand der postkommunistischen Staaten in der ehemaligen Sowjetunion zeigen, sondern auch anhand von Handkes Entdeckung seiner Zugehörigkeit zu mehreren Identitäten: Serben, Kärtnern, Österreichern. Er identifiziert sich jedoch mit keiner dieser 'Nationen', sondern betont seine Position als Grenzgänger oder Bewohner des Zwischenraums.

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Sektion III: Wissenschaft und Informationssysteme - nationale Sammlungen und grenzüberschreitende Analysen
Sektion VIII: Wissenschaft, Hard- und Softwareindustrien, EU, Unesco

Bericht: Irén Lévay

Bei den gemeinsam abgehaltenen Sektionssitzungen waren Vorträge über Nationale Sammlungen und moderne Serviceleistungen der Universitäts- und Nationalbibliothek der Lajos-Kossuth-Universität zu Debrecen, über das Informationsangebot der Österreichischen Nationalbibliothek via Internet im europäischen Kontext und über die Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek im Zusammenhang mit der Erforschung der europäischen Wissenschaftskommunikation zu hören. Von der Seite der Forschenden konnten die Teilnehmenden am Beispiel russisch-deutscher Kulturvermittlung nicht nur die Rolle "primärer RezipientInnen für die Kulturvermittlung" erfahren. Gerade die Erforschung des Kulturbegriffs eines Literaten wie Henry von Heiseler im Spannungsfeld von übersetzerischer und dichterischer Rezeption sollte Gegenstand einer übergreifenderen Kulturwissenschaft sein.

Die Vorträge ermöglichten den Vergleich von Modernisierung der ungarischen Bibliotheken und den Fortschritten der westlichen Institutionen. Am stärksten kennzeichnend ist, daß die Bibliotheken in den letzten 3-4 Jahren riesengroße Fortschritte im Bereich der Elektronisierung gemacht haben. Sie verzeichnen die größten Erfolge in gemeinsamen nationalen und internationalen Projekten, in der freiwilligen Kooperation von Bibliotheken, Museen und Archiven zur Verbesserung von Forschungsmöglichkeiten.

Die Projekte umfassen kooperative Katalogisierung innerhalb eines Landes oder die Herstellung von gemeinsamen Datenbanken verschiedener Länder, vor allem die Erschließung der Bestände betreffend. Die gezielte Förderung der Forschung kann auch durch Nationalbibliotheken geschehen: durch elektronische Bestandserschließung, nationale Digitalisierungsprojekte wie "American Memory", oder die von der Staatsbibliothek Berlin organisierten Projekte DIANA (Deutscher Index zu Autographen und Nachlässen oder MALVINE (Manuscripts and Letters via Integrated Networks in Europe), durch Schaffung virtueller Gesamtkataloge von Mauskripten mit einheitlicher grafischer Benutzeroberfläche.

Eine Integration weiterer Länder in die Europäische Union könnte diesen eine Anknüpfung an die Projekte erleichtern.

Es trat klar zutage, daß heutzutage nicht nur die wertvollen Nationalsammlungen im kulturellen und wissenschaftlichen Leben eines Landes entscheidend sind, sondern vielmehr grenzüberschreitende moderne Leistungen, die Möglichkeit des Wissenstransfers auf elektronischem Wege. Im Zeitalter der wissenschaftlichen Bibliotheken ist die erstrangige Aufgabe, die elektronische Zugänglichkeit der Informationen herkömmlicher und digitaler Art zu sichern und die Leserinnen und Leser im Internet-Dschungel zu orientieren.

Andererseits sollen auch die Bibliotheken Web-Publisher sein und ihre Kataloge oder ihren digitalisierten Bestand via Internet zur Verfügung stellen. Nebenbei sollten Nationalbibliotheken auch als Internet-Archive fungieren. Forschende verschiedenster Fachgebiete können beweisen, wie wichtig und hilfreich für sie bibliothekarische Arbeit sein kann.

Im Bereich der Softwareentwicklung haben sich in den letzten Jahren, ermöglicht durch das Internet, neue Pradigmen entwickelt, die in krassem Gegensatz zur traditionellen, oft monopolistischen Softwareindustrie stehen (als Beispiel die Entwicklung des Betriebssystems Linux). Das neue Paradigma ist vor allem durch die kooperative Mitwirkung einer Vielzahl von EntwicklerInnen und BenutzerInnen gekennzeichnet, und durch die freie Zurverfügungstellung von Sourcecode und technischer Dokumentation.

Diese neuen Methoden könnten nicht nur im Hinblick auf de Entwicklung von Software auch für die Kulturwissenschaften interessant sein, sondern auch zum Modell von kooperativer Forschung und Entwicklung in anderen Bereichen werden.

Verstärkt wird man auch der Sicherheitsthematik in den sehr offenen Universtäts- und Forschungsnetzen Aufmerksamkeit schenken müssen, da nicht nur in gewissen Bereichen die Vertraulichkeit personenbezogener Informationen (z.B. in der Medizin) auf dem Spiel steht, sondern auch die Authentizität und der Fortbestand von Dokumenten und Forschungsergebnissen.

Es ergeben sich die folgenden Beobachtungen, Desiderate und Forderungen:

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Sektion IV: Internationalisierung, Forschungseinrichtungen, Universitäten, Forschung und Ausbildung

Sektion V: Kulturwissenschaftliche Forschungseinrichtungen und Universitäten im Internet

Bericht: Gertrude Durusoy

Am 30.September wurden alle angemeldeten Referate der Sektionen gehalten und die Diskussionen fanden jeweils nach jedem Beitrag statt. Obwohl die Themen erst z.T. sehr verschieden wirkten , ergaben sich bei den Diskussionen wichtige Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Gertrude Durusoy sprach über "Wege zur Internationalisierung von Forschung"; Heinz Hauffe zum "Wechselspiel zwischen Universität und Universiätsbibliothek"; George Gutu seinerseits über "Möglichkeiten und Grenzen kulturwissenschaftlicher inner- und interuniversitärer Forschung". Katja Sturm-Schnabl behandelte " Die Rolle der Literatur- und Sprachwissenschaft bei der Affirmation der slowenischen nationalen Identität" und Ioan Lazarescu "Das Österreichbild in den rumänischen DaF-Lehrwerken zwischen Klischee und Realität".

Der 1.Oktober wurde der konkreten Illustration des Einsatzes von Internet im Unterricht von ungarischer Literatur gewidmet. Andras Veres und Ivan Horváth haben das 1998 realisierte Multi-Media-Programm zu fünf ungarischen Dichtern dargestellt. Auf der CD-ROM wurden neben biographischen Daten und Bildern, vertonten Gedichten, Daten zur literarischen Persönlichkeit auch Sekundärliteratur, Rezeptionsgeschichte und Unterrichtsvorschläge präsentiert. Eine ergiebige Diskussion fand statt, aber das geplante Rundtischgespräch des Nachmittags nicht, weil kein neues Publikum hinzukam.

Als Ergebnis könnte man schematisch Folgendes nennen:

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Sektion VI: International Science Communication,
Zeichen, Sprache, Begriffe, Formen
Sektion VII: Wissenschaft und Internet:
Möglichkeit und Grenzen der Nutzung

Bericht: Gerhard Budin

Ein breites Spektrum an Themen wurden präsentiert und diskutiert. Dabei lassen sich folgende zentrale Gedanken nachvollziehen:

Wissenschaftskommunikation ist aufgrund der universellen Verwendung des Internet (und anderer Informationstechnologien) nachhaltigen Veränderungen unterworfen. Dies betrifft die Art der Wissenproduktion, -repräsentation und -vermittlung ebenso wie den Umgang mit Vielsprachigkeit auf terminologischer Ebene ebenso wie in der technologischen Umsetzung entsprechender Zeichensätze. Entlinearisierte und multimediale Wissensdarstellung erfordert fundamental neue Denkprozesse. Ebenso erforderlich sind neue Informationskulturen, um adäquate Strategien angesichts der Auswirkungen der Globalisierung und Ökonomisierung des Wissens zu entwickeln und die innovative Vermittlung und Umsetzung wissenschaftlichen Wissens wie dessen epistemologische Reflexion in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu unterstützen. Kulturwissenschaftliche Forschung kann auf diese komplexe Dynamik nicht nur beschreibend sondern auch aktiv gestaltend eingehen, wobei Forschungsfelder wie Wissenschaftstheorie, Wissenschaftslinguistik, Kommunikationswissenschaft, Telematikforschung, Informationswissenschaft, etc. einbezogen werden müssen.

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IX. Sektion: "Wissenschaftliche Darstellungen, Auktorialität, Transdisziplinarität und Internet"

Bericht: Philipp Löser

In der Sektion IX wurden sieben Referate vorgetragen. Peter Zalan, Budapest, stellte unter dem Titel "Zum Problem ungesättigter literarischer Formen, dargestellt an Beispielen aus der österreichischen Literatur" den Versuch vor, Schwierigkeiten ungarischer Studenten im Umgang mit moderner österreichischer Literatur mit dem Textmerkmal der "Ungesättigtheit" zu korrelieren. Darunter verstand er eine paradoxe Anlage der Identitätskonstruktion, die es den Figuren eines literarischen Textes einerseits erlaube, über Differenzierungen in der Selbst- und Fremdzuschreibung Identitäten auszubilden, die aber auch die gegenläufige Tendenz in sich berge, das Ich in der disparaten Welt der Moderne oder im Umgang mit dem Anderen aufzulösen. Wenn nun viele Leser mit Texten von Musil oder Hofmannsthal mehr Schwierigkeiten hätten als etwa mit solchen von Werfel, dann liege dies genau am Textcharakteristikum der "Ungesättigtheit". Hartmut Cellbrot, Opava, sprach "Zu Trakl und Nietzsche". An den Gedichten "Drei Träume", "Die Raben" und "Nachtseele" machte er deutlich, daß sich in der Lyrik Trakls viel von der Konzeption des Wechselspiels von Apollinischem und Dionyischem bei Nietzsche wiederfinden läßt. Das lyrische Ich sehe sich in der Lage, im Prozeß der Formgebung auf die Seite des dionysischen Anderen zu wechseln und vorübergehend selbst "Natur" zu werden. Die Schreibweise sei zudem von einem Perspektivismus geprägt, der bis in die Überdeterminierung lexematischer Einheiten hinein unterschiedliche Verstehensparadigmen unversöhnt und ohne sie in einem übergreifenden Ganzen integriert zu denken nebeneinanderstelle. Edit Kovács, Debrecen, zeigte in ihrem Vortrag ("Der Text als Netzwerk in Thomas Bernhards 'Das Kalkwerk'"), daß in Bernhards Roman "Das Kalkwerk" unterschiedliche Werkbegriffe gegeneinander ausgespielt werden. Der Protagonist scheitert an seinem utopischen Anspruch, die perfekte Studie zum gewählten Thema des Hörens zu schreiben. Was er als absoluten Gedankeninhalt im Kopf zu haben vorgibt, widersetzt sich der Versprachlichung. Diesen Gegensatz erklärte Kovács als Unvereinbarkeit von netzartigem, komplexen Denken und den Zwängen linearer Schrift. Während Bernhards Text bis in die Strickmetaphorik hinein stets die Herstellung vielschichtiger und gewebeartiger Strukturen thematisiere, sei es dem Protagonisten zuletzt nur möglich, den Umbau des Kalkwerks zum Abschluß zu bringen. Diese "Werk" - die Abschaffung von Zierat und der Ausbau zum Gefängnis - folge aber einer Diktatur der Linie. Switlana Fiskowa, Lviv, sprach zum "Zeit-räumlichen Ausdruck der Verbindung von Literatur und Musik im Schaffen von Hermann Broch". Sie legte Brochs Zeitmetaphysik dar und analysierte die Möglichkeit des Lesers, dank der musikalisch-rhythmischen Qualitäten der Texte im Lektüreerlebnis die Zeitlichkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz vorübergehend zu transzendieren, als wünschenswertes Komplement zu Alltagserfahrungen in der modernen Gesellschaft. Nonna Kopystianska, Lviv, erläuterte in ihrem Beitrag "Studien über künstlerische Zeit und künstlerischen Raum als transkulturelle literaturwissenschaftliche Methode" das interdisziplinäre und internationale Seminar "Zeit, Raum und Rhythmus in der Literatur" an der Iwan Franko Universität in Lviv. Bei diesem Projekt geht es darum, in einem internationalen Rahmen wissenschaftliche Texte zu den Komplexen Zeit, Raum und Rhythmus in der Literatur bibliographisch zu erfassen und in Kooperation kritisch zu annotieren. Elaborierte Strukturierungen des Gegenstandsbereichs liegen bereits vor. Eine besonders innovative Komponente des Vorhabens liegt darin, daß der Informationsaustausch weitgehend über das Internet abgewickelt werden soll (E-mail: Seminarkop@franko.lviv.ua). Philipp Löser, Göttingen, ging in seinem Beitrag "Hypertext im Diskurs. Problembewußtsein und ideologische Altlasten literarischer Hypertexte" auf eine Reihe von Auffälligkeiten bei gegenwärtig auf Datenträgern oder im Internet verfügbaren literarischen Hypertexten ein. Er plädierte für eine kritische Distanz zum neuen Medium Hypertext und seinen literarischen Nutzungen. Insbesondere machte er auf eine weitgehend einheitliche Basismetaphorik der Texte, auf die Ästhetisierung des Schreibens dank technologischer Überformung, auf eine Tendenz zur Verstärkung des Virtualitäts-Effektes der Computertechnologie und auf Mechanismen der Lesermanipulation (Hintergrundprogrammierungen, die nicht auf die Konstituierung der Textgestalt, sondern auf die Programmierung des Lektüreverhaltens zielen) aufmerksam. Horst Turk, Göttingen, war selbst nicht anwesend. Sein Beitrag "Zur Internationalität nationaler Literaturen am Beispiel der deutschsprachigen Literatur" wurde von Löser kurz vorgestellt. Im Anschluß an die in der Nationalismusforschung (Hobsbawm, Gellner, Anderson u.a.) inzwischen etablierte Einschätzung, daß nicht Nationen den Nationalismus, sondern der Nationalismus zuallererst die Nationen hervorbringe(n), bestimmt Turk die Rolle der Literatur neu. Sie sei nicht allein Ausdruck und Manifestation kultureller Prozesse, sondern entfalte ein Reservoir semantischer Operationen, mit deren Hilfe sich Kulturen in Wechselmittlung allererst konstituieren. Entsprechend komme innovativen Entwürfen wie dem Nationenkonzept bei Herder oder der Verhandlung der Vielsprachigkeit der literarischen Schweiz eine hohe Bedeutung zu. Die geplanten Vorträge von Penka Angelova (Rousse), Alexander Honold (Berlin), Erzsebet Csanyi (Novi Sad) und Bernd Seifert (Hagen) entfielen.

In den Diskussionsrunden kamen natürlich Eigenheiten der behandelten Autoren zur Sprache. Generell war den Teilnehmern aber sehr daran gelegen, eine Vergleichbarkeit zwischen Literatur und Internet bzw. Hypertexten herzustellen. Die Homologien unterschiedlicher Netzstrukturen - auf der einen Seite die mit 'links' vernetzten Textwaben von Hypertexten, auf der anderen Seite musikalische Stilmittel, die komplexe Bezugsstrukturen schaffen (Broch), Textherstellung nach "Strickmustern" (Bernhard), semantische Überdeterminierungen (Trakl) oder die effektvolle Demonstration der Dissoziation des Ich (Musil, Hofmannsthal) - boten in dieser Hinsicht eine ganze Reihe fruchtbarer Anhaltspunkte. Dabei fiel vor allem ins Auge, daß die Linearität des Mediums Schrift der Vernetzungskraft 'herkömmlicher' Literatur keinen Abbruch tut. Außerdem bietet diese dort schon ein ganzes Reservoir unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten für Aspekte der Netzhaftigkeit an, wo Hypertexte unter Umständen noch in Neuland aufzubrechen glauben. Die Frage nach einem übergreifenden Sinn- oder Netzzusammenhang etwa wird von Broch (Musik schafft die Verbindung zum Zeitlosen) und Trakl (es gibt keine Totale, in der Spannungen aufgehoben würden) grundverschieden beantwortet. Fiskowa sprach in diesem Zusammenhang pointiert von 'horizontalen' Strukturen, die Widersprüche bestehen lassen, und von 'vertikalen' Strukturen, die Verbindung zu einem Absoluten schaffen. Die diskursive Macht der Alltagssprache wird beispielsweise durch Überdeterminierung (Trakl), oder durch vollständige Entleerung der Vokabeln in Wiederholungsstrukturen (Bernhard) entlarvt und überwunden. Auch eine Dissoziation des Ich findet man in verschiedensten Formen bewältigt.

Vor diesem Diskussionshintergrund wurden einige Bedenken gegenüber Hypertexten artikuliert. Im Gegensatz zu traditioneller Literatur müßten literarische Hypertexte erst nachweisen, daß sie in der Lage seien, den Leser ästhetisch anzusprechen. Die mechanische Auffächerung dichter Strukturen in ein Netz diskreter Einheiten könne auch dazu führen, daß der Leser nicht mehr die notwendige Lektürearbeit am Text leistet, die es ihm erst ermöglicht, das Gesagte für sich persönlich relevant zu machen und die Bedeutung von Bezugsstrukturen verstehend nachzuvollziehen. Ob nicht das 'fließende link' (Cellbrot), also die Kopräsenz rivalisierender Verstehensparadigmen in einer Einheit, der Verflachung von Informationsstrukturen generell vorzuziehen wäre, bleibt zu erwägen. Angesichts dieser offenen Fragen und gerade vor dem Hintergrund der Überlegungen von Turk, daß Literatur immer semantische Operationen beinhaltet und daß deren strategischer Wert für das Aushandeln von Positionen innerhalb einer Kultur von großem Gewicht ist, konnte in einer Hinsicht weitgehend Konsens erzielt werden: Literarische Hypertexte haben nicht notwendig einen Vorsprung vor Literatur, die an die Buchseite gebunden ist. Sie müssen erst erweisen, daß ihre differente Medialität auch überzeugende Formen künstlerischen Ausdrucks zuläßt.

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Sektion X: Kulturwissenschaftliche Forschung und gesellschaftliche Umsetzung

Bericht: Peter Horn

1. Kulturwissenschaften können, so meinte Simo (Yaounde: Kulturwissenschaft als Entwicklungswissenschaft in Afrika) in seinem Vortrag, die bestehenden Zustände legitimieren, sie könnten aber auch unabhängig vom Machtpol kritisch diskursanalytisch die Zustände untersuchen. Eine solche Vorgehensweise wird Zweifel und Widersprüche nicht unterdrücken sondern offen diskutieren. Die Frage ist natürlich, wer unterstützt das und wer finanziert das? Es ist ja selten im Interesse des herrschenden Systems sich einer solchen Analyse auszusetzen.

2. Ein solches Interesse (solange die Analyse nicht gegen das eigene Regime gerichtet ist) kann man z.B. bei jenen Staaten und Gemeinschaften voraussetzen, die sich als "Opfer" des weltweiten US-Systems empfinden. Dort gibt es Ansätze zu einer Revolte der lokalen Systeme und ein Interesse an der Unterstützung regionaler und ethnischer Systeme, die sich dem globalen System entgegenstellen.

3. Literatur zeigt sich als ein Raum, in dem Möglichkeiten durchgespielt werden, Lösungen zu finden, mit Spannungen fertig zu werden. Die neuere afrikanische Literatur zum Beispiel zeigt emblematische Figuren (der Tradionelle Führer gegen den "entwurzelten" Intellektuellen, den Revolutionär gegen den neureichen Bourgeois, den Diktator gegen den populären Führer) im Dialog, und erforscht damit Wege zu einem möglichen Konsens. (vgl. Fritz Peter Kirsch (Wien): Zivilisationsprozesse südlich der Sahara? Literaturhistorische Perspektiven der afrikanischen "Frankophonie").

4. Multikulturelle Initiativen müssen sich allerdings davor hüten, von ungewollten Partner vereinnahmt zu werden (vgl. Larissa Cybenko (Lviv): Literatur in der Ferne als wirkender Faktor des modernen Kulturaustausches). Multikulturalität kann den verschiedensten Interessen dienen (Beanspruchung von historischen Beziehungen im Handel, in der Kulturpolitik und im Tourismus, Nationalistische Interessen z.B. der Ukraine in Galizien und der Bukowina usw.) Wir verfallen leicht in alte Gewohnheiten, Einseitigkeiten, sprechen vorschnell von "unserer" Kultur, wo wir doch gerade an Ländern wie der Ukraine zeigen könnten, wie produktiv Begegnungen sein können. Multikulturalismus muß sich nicht unbedingt nur auf die Vergangenheit beziehen, er kann regionale Kulturen in ihrer Beziehung zu dominanten neu erfassen, und sich vor Totalitäten, Reinheiten und Absolutheiten hüten. (vgl. Sabine Scholl (Chicago): Zwischen den Kulturen leben und schreiben: Beispiele zweisprachiger Autoren und synkretischer Literaturen).

5. Abweichungen von einer (z.B. eurozentrischen oder muslimischen) Norm können leicht als Werteskala benutzt werden, anhand derer alle anderen als mehr oder weniger minderwertig eingestuft werden können. So sehr Herder sich einerseits bemüht hat, das Recht jeder Kultur zu sich selbst zu betonen, ist doch sein Denken eine der Wurzeln des modernen Volksstaat-Denkens, das da besagt, daß Staat, Sprache, geschichtliche Herkunft und Kultur übereinstimmen müssen. Eine solche Theorie ist überall dort verderblich, wo Minderheiten sich nicht in die dominante Staatskultur integrieren lassen. (vgl. Peter Horn (Kapstadt): Wie eurozentristisch ist die europäische Kultur?) Es geht darum, dem Fluß der Ideen zwischen verschiedenen Kulturkreisen nachzugehen, Ansätze zu finden, die das Gemeinsame der Kulturen betonen. Eine solche historische Sicht würde zum Beispiel die enge Verflechtung der westlichen europäischen Kultur mit der des Islam aufzeigen. Feindschaft entsteht hier wie anderswo allerdings nicht so sehr aus den Unterschieden als aus den Ähnlichkeiten.

6. Negative Modelle, wie etwa 'Morbus Kitahara' von Christoph Ransmayr, können genau beobachtet werden, und als Folie etwa zum Prozeß der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika benutzt werden. (Vgl. Kathleen Thorpe (Johannesburg): Die Relevanz von 'Morbus Kitahara' von Christoph Ransmayr im südafrikanischen Kontext). Wie geht man in verschiedenen Kulturen mit vergangenen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen um? Wie mit dem Ressentiment derjenigen, die sich als Opfer sehen? Was nötig ist, ist eine vergleichende Rechtsphilosophie, eine Sozio-Ökologie der Wiedergutmachung. In westlichen Kulturen muß der Tat eine Form der Reparation folgen, das Entwendete oder Zerstörte muß ersetzt werden (Zahn um Zahn); in anderen, z.B. afrikanischen Kulturen wird die Tat als eine Verletzung des gesellschaftlichen Gleichgewichts gesehen, das durch eine kollektive soziale Geste wieder hergestellt werden muß.

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